Ob ich mich auf den Lauf freue? Ich muss meinem sechsjährigen Sohn gestehen, dass aktuell meine Angst überwiegt, weil mir die vor mir liegende Strecke ziemlichen Respekt einflößt. Fast 61 km stehen mir bevor – das kann einschüchtern. Obendrein erinnere ich mir nur allzu gut an meine letzte Teilnahme, meinen ersten offiziellen Ultramarathon, bei dem ich am Ende ordentlich litt.
Einmal um den Schweriner See ist doch gar nicht so weit, versucht mich mein Filius aufzubauen. Der hat leicht reden, kann mit Distanzangaben noch nichts anfangen und hat zudem bedingungsloses Vertrauen in mein Leistungsvermögen. Wenn ich das doch nur auch hätte. Seit dem Ultramarathon um den Plauer See Ende Februar lief mein Training schlecht. Zwei Wochen verlor ich durch Krankheiten und der einzige Versuch eines langen Laufs scheiterte Grandios nach 28 km, von denen schon die letzten paar bescheiden waren. Immerhin: Die letzte Woche war ordentlich, doch hätte ich da vielleicht besser getapert, statt Kilometer zu sammeln. Sind das die Voraussetzungen, die für ein ordentliches Finish reichen?
Ringen mit mir selbst
Eigentlich könnte ich ja ganz entspannt in den Lauf starten. Meine Zeit von 2021 ist mehr als schlagbar, sechseinhalb Stunden brauchte ich damals. Gemessen an dem, was ich danach an Leistungen abgerufen habe, stehen die Chancen gut, die Zeit zu unterbieten. Warum also mein Zaudern? Ich suchte bereits am Vorabend geradezu nach Ausreden, nicht an den Start zu müssen. Aber was heißt „müssen“? Hauptsächlich wegen des Laufs ist mir meine Familie nach Schwerin gefolgt. Naja, der Verwandtschaftsbesuch hatte ungefähr die gleiche Bedeutung und war so nett, dass ich mir Vorabend gleich drei Bier gegönnt habe. Nichtsdestotrotz kann ich meiner Familie wohl schlecht erklären, nicht an den Start zu gehen.
Irgendwann packe ich es und begebe mich zum Start. Heimlich, still und leise. Wenn ich mich nicht aufmache, dann versacke ich am Ende doch noch. Es sind fünfzehn Minuten Fußweg bis zum Start am Schloss. Schnell bin ich froh, den Windbreaker übergezogen zu haben. Es nieselt und durch den Wind ist es kühler als erwartet. Die vorhergesagte Temperatur liegt im Maximum bei fast 15 °C – etwas zu warm für meinen Geschmack. Da ist mir die Kühle des Morgens lieber.
Social Media ist die halbe Miete
8:25 Uhr ist es, als ich an der Startlinie ankomme. Als Wiederholungstäter habe ich mir das Briefing in der Turnhalle am Ziegelinnensee gespart und somit auch das gemeinsame Warmlaufen zur Startlinie. Der Pulk der Läufer kommt just in dem Moment aus der Altstadt herab, als ich ankomme. Einige Fotos später wird es ernst. Der Veranstalter unkt, Social Media sei jetzt befriedigt und damit das Wichtigste erledigt. Die Runde um den See könnten wir uns eigentlich sparen. Immerhin kann ich schmunzeln. Die Suche nach Ausreden ist vorbei, ich bin am Start und werde laufen. Die Zweifel bleiben.
Die einzige Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen, ist: Loslaufen. Und das tue ich: Um 8:30 Uhr starte ich mit ca. 200 anderen auf die große Runde um den Schweriner See. Ich habe keinen Plan, nur vage eine Pace von 5:20 min/km angedacht. Der Lauf wird zeigen, was geht. Weil ich von der verkehrten Seite zum Startbereich gekommen bin, bin ich aus der ersten Reihe gestartet, also mit den Läufern und Läuferinnen, die hier heute mit Siegesambitionen an den Start gegangen sind. Da brauche ich mir nichts vorzulügen, vorne – je nachdem, wie man es definiert – mitlaufen werde ich nicht, selbst wenn ich über mich hinauswachse. Bei kleineren Läufen bin ich durchaus schon unter die ersten drei gekommen, aber nicht bei einem größeren Starterfeld.
Ein bekanntes Gesicht und neue Bekanntschaft
Meine angepeilte Traumzeit liegt bei 5:30 Std., was allenfalls für einen Platz in den Top 20 reichen dürfte, mit 5:45 Std. wäre ich noch immer sehr, sehr glücklich. Unter sechs Stunden will ich auf jeden Fall bleiben. Aber wie geschrieben: Der Lauf wird zeigen, was geht. Zunächst übe ich mich in Zurückhaltung, versuche mich nicht mitziehen zu lassen. Das kann mich nach hinten raus teuer zu stehen kommen. Kaum im Rennen, schlägt mir jemand auf die Schulter: „SuMeMa?“, fragt mich die Läuferin gut gelaunt. Ich verstehe nicht, sodass sie ihre Frage wiederholt.
Der Groschen fällt bei mir pfennigweise, hätte man früher gesagt. Dann macht es „klick“. Es ist Stephanie, die mit mir im Januar den Südkreis Meilenmarathon – SuMeMa – gelaufen ist. Nicht nur das: Stephanie hat die Frauenwertung gewonnen und auch mich ziemlich alt aussehen lassen. Wir reden kurz, dann lasse ich sie ziehen. Will ich ankommen, muss ich langsamer machen. Das attestiert auch meine treue Garmin, die ersten beiden Kilometer lagen bei ungefähr 5 min/km.
Kaum ist Stephanie von dannen, spricht mich ein Läufer an, der mit seiner GoPro das Rennen und nach meiner Erlaubnis auch mich filmt. Er stellt mir einige Fragen zum Rennen, darunter auch die Gretchenfrage: Warum nehme ich teil? Tja, warum eigentlich? Tolles Rennen, nicht zu lang, sage ich, Landschaft, Verwandtschaft. Ich könnte noch anfügen, dass sonst kein Rennen in diesem Monat in meinen Terminkalender gepasst hat. Klingt aber blöd. Aber insgesamt sind das wohl die ausschlaggebenden Gründe. Er empfiehlt mir noch einen 100er, dann lässt er sich zurückfallen mit der gleichen Erklärung, die ich zuvor gegenüber Stephanie abgegeben habe. In der Tat bin ich noch immer zu schnell.
Neue Anblicke, neue Streckenführung
Nach zweieinhalb Kilometern gibt es den ersten kleinen Vorgeschmack auf das, was später kommt und den Lauf zum Traillauf macht. Ohne jede Notwendigkeit weicht der Kurs vom Uferradweg ab und führt stattdessen über einen Trampelpfad. Dann hat uns der Asphalt wieder. Wiederum zweieinhalb Kilometer weiter sind wir am Zippendorfer Strand. Der hat was von einem Seebad. Sandstrand, Strandpromenade, Pavillon – alles da. Nur Kur- und Strandhotel passen nicht so richtig ins Bild. Beide stehen leer und verströmen noch immer den Charme einer vergangenen Zeit. Ich mag das.
Die nächste Ruine wartet nach fast acht Kilometern mit der Reppiner Burg. Weil ich im vorletzten Jahr Corona wegen die Sommerversion des Laufes mitmachte, ist mir der Anblick neu. Der halbverfallene Turm muss damals hinter dem Grün der Bäume verborgen gelegen haben. Neu ist auch der Verpflegungspunkt und wohl auch die Streckenführung auf diesem Abschnitt des Rennens. Erwartet habe ich den VP ungefähr nach neuen Kilometern, aber bis auf zwei Frauen, die uns von einer Bank aus anfeuern ist da nichts.
Es geht weiter über eine Brücke der B321 und damit habe ich die südlichste Ausdehnung des Sees genommen. Eine Dreiergruppe zieht langsam an mir vorbei. Die Läuferin aus dem Trio erkenne ich wieder, sie war auch in Plau am Start und nur kurz nach mir ins Ziel gekommen. Unerkannt falle ich langsam zurück. Schon bin ich auf der Ostseite des Sees und noch immer lässt der VP auf sich warten. Das 10-Kilometer-Schild kommt dafür einige hundert Meter früher als erwartet. Lt. meiner Uhr bin ich noch nicht so weit. Mir ist es egal, offiziell ist offiziell.
Ab jetzt: Trail!
Endlich, am Schloss Raben-Steinfeld, verbirgt sich der erste VP. Das ist neu für mich. Bei meiner letzten Teilnahme liefen wir auf der Uferseite unterhalb des Schlosses. Ich verzichte auf zusätzliche Verpflegung und bleibe bei meinem eigenen Sortiment. Die kleine Erhebung gewährt einige nette Ausblicke auf den Schweriner See, ehe wir wieder auf Seeniveau am Ufer entlanglaufen. 2021 war der nun vor mir liegende Streckenabschnitt des Schweriner Seen-Trails landschaftlich der schönste der gesamten 60 km.
Auch heute hat er Charme, aber es fehlt das Grün des Sommers und auch die Sonne blitzt nur für kurze Momente durch das Grau. Die Steilufer bleiben aber trotzdem spektakulär schön. Nach 15 km ändert sich das Terrain, das Laufen ist jetzt wesentlich anspruchsvoller. Der Weg ist auf einen Singletrail geschrumpft, und es geht stärker auf und ab als zuvor, der Boden ist vom Regen schlüpfrig und teilweise führt der Trail so dicht an der Wasserkante entlang, dass ein Fehltritt unweigerlich ein Bad im Schweriner See nach sich ziehen würde.
Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, rutsche ich tatsächlich auf dem schräg zum Wasser abfallenden Trail kurz weg. Ich kann mich sofort fangen, werde aber bestätigt: Vorsicht ist angesagt. Immer mal wieder sind umgestürzte Bäume als Hindernisse im Weg, kleine Rinnsale im Sprung zu überqueren oder morastige Stellen zu überwinden. Das schlägt sich auf die Kilometerzeiten nieder und liegt nicht jedem. Stephanie, die ich seit unserem Smalltalk kurz nach dem Start nicht mehr gesehen habe, hat offenbar mit dem Terrain zu kämpfen und schon bin ich an ihr vorbei. Vielleicht bin ich ja doch besser drauf als gedacht. Jetzt ergibt der Spruch auf meinem Armband, das ich bei der Abholung der Startunterlagen bekommen habe, Sinn: Wo eine Wille ist, ich auch ein Trail.
Gespräche unter Läufern
Nach drei Kilometern ist der schwierige Teil bewältigt und VP 2 kommt in Sicht. Wieder verzichte ich und nehme einen biestigen Anstieg am Rande eines Feldes in Angriff. Auf dem durchnässten Ackerboden finde ich kaum richtigen Halt und der Hügel kostet eine Menge Energie. Noch mal eineinhalb Kilometer Acker, dann bin ich in Rampe und habe alsbald den ersten von beinahe drei Halbmarathons für heute abgehakt.
Hinter Rampe kommt wieder asphaltierter Radweg, einfache, monotone Kilometer. Eine Handvoll Kilometer spule ich alleine ab, dann werde ich eingeholt. Es ist Teresa vom Fishermanstrail in Plau, die mich vorhin schon einmal überholte, bis ich sie am zweiten VP wieder hinter mir ließ. Sie spricht mich auf meinen Laufstil an. Ihr würden die Waden platzen, wenn sie so extrem auf dem Vorfuß laufen würde. Gewohnheitssache, mache ich schon immer so, erkläre ich mich. Dann helfe ich ihrer Erinnerung auf die Sprünge, weil sie mich noch immer nicht wiedererkannt hat. Ach ja, Plau! Die nächsten Kilometer bilden wir ein Team. Zu zweit vergeht die Zeit wesentlich schneller als alleine. Und das ist vermutlich auch gut so.
Schleichend stellen sich bei mir die ersten Anzeichen von Ermüdung ein und ich warte eigentlich nur darauf, dass ich echte Probleme bekomme. Meine Skepsis ist immer noch da. Inzwischen hat auch Teresas Mann zu uns aufgeschlossen. Er ist Radbegleitung und war nach einem Ausrutscher in den See für eine Weile zurückgefallen. Der Austausch lenkt ab von den zunehmenden Wehwehchen. Die Achillessehne zwickt bedenklich. Zu noch etwas ist die Liaison gut: Ich nutze die VPs. An VP 3 lasse ich mir Cola reichen und weil mein Mehrwegbecher, den ich als Teil der Pflichtausrüstung mitführen soll, ganz hinten im Rucksack ist, lasse ich mir die Cola einfach in meine nicht ganz leere Softflask füllen. Damit habe ich wahrscheinlich ein neues Getränk kreiert.
Hoch und Tief liegen dich beieinander
In einem Grüngürtel etwas abseits des Schweriner Sees macht uns Teresas Mann darauf Aufmerksam, die Hälfte des Rennens hinter uns gebracht zu haben. Das ist ein kritischer Moment, merke ich an. Man ist noch ewig weit weg vom Ziel, aber schon fast drei Stunden unterwegs. Eine Konstellation, die in einem Moment der Schwäche zu viel sein kann. Man befindet sich im Niemandsland des Rennens. Obwohl man den Schweriner See nicht sieht, gefällt mir der Weg durch den Wald. Rechts sind kleinere Teiche, dann merke ich, dass Teresa Probleme bekommt und das auch ihrem Mann kommuniziert. Kurz darauf lässt sie abreißen.
Ironischerweise fühle ich mich genau in diesem Moment stark, erstmals seit ich ins Rennen gestartet bin, habe ich ein richtig gutes Gefühl. Täuschen lassen sollte ich mich aber nicht. Der Weg ins Ziel ist noch sehr weit, weshalb ich mich zunächst am nächsten VP orientiere, der bei ungefähr 36 km kommt. Hier verweile ich kurz, lasse mir abermals etwas zu trinken geben und setze meinen Weg fort. Noch während ich am Stand warte, sehe ich Teresa näher kommen. So schlecht scheint es ihr also nicht zu gehen.
42 km und mehr
Kaum Erinnerungen habe ich an das, was jetzt kommt. Bruchstücke von Marathonmarke, dem verpassten VP und richtig fiesem Morast – und das im August – sind noch vorhanden. Relativ wenig für einen Abschnitt von fast zehn Kilometern. Aber auch diesmal bleibt nicht viel hängen. Es überrascht mich, dass ich noch lange auf dem asphaltiertem Radweg unterwegs bin, ehe die zweite anspruchsvolle Passage des Schweriner Seen-Trails beginnt. Die Kilometer bis dahin verfliegen nicht gerade, die Dauer des Laufs fordert ihren Tribut. Jeder Kilometer will jetzt erarbeitet werden. Wobei: So schlimm ist’s noch nicht.
Den Marathon habe ich nach ungefähr 3:45 Std. erledigt. Kein Schild weist auf das Ereignis hin, kein Tusch, keine Kapelle, kein Zuschauer. So ist das eben bei Ultraläufen, da geht es weiter, wo für viele der längste vorstellbare Lauf endet. 18,2 km muss ich heute noch draufsatteln. Wie immer, versuche ich nicht zu sehr an die vor mir liegende Distanz zu denken. Zwei Stunden werde ich schätzungsweise noch laufen müssen. Das ist ein dickes Brett. Vor allem deshalb, weil es jetzt wieder „trailig“ wird.
Seit längerem laufe ich hinter einem Läufer, dessen neonfarbene Bekleidung weithin sichtbar ist. Langsam, ganz langsam habe ich mich über die letzen Kilometer genähert. Dann, kurz bevor es zum vorletzten VP geht, überhole ich grüßend. Mir sind diese Überholmanöver immer ein Graus, da ich nicht weiß, wie ich mich richtig verhalten soll. Schweigend vorbeiziehen oder kurz grüßen? Beides kann negativ empfunden werden, vor allem, wenn man ob der Anstrengung nicht mehr das beste Nervenkostüm trägt. Das kenne ich aus eigener Erfahrung. Der Läufer erwidert meinen Gruß, seine Miene kann ich aber nicht deuten.
Ein geplatztes Date
Anno 2021 verfehlte ich den nun vor mir liegenden VP. Mit einigen anderen Läufern verpasste ich die Weggabelung hinauf zum Schloss Wiligrad und lief weiter an der Uferlinie. Das war damals auch der dezenten Beschilderung geschuldet. Heute besteht in doppelter Hinsicht keine Gefahr sich zu verirren. Ich bin vorgewarnt und der Pfeil auf dem Weg ist kaum zu übersehen. Zunächst noch laufend, wechsele ich im Angesicht der starken Steigung zum Gehen. Haushalten mit den Kräften! Auch der gerade Überholte tut es mir gleich. Sobald das Geläuf abflacht, kehre ich zum Laufschritt zurück.
Am VP habe ich ein Date. Robert will mich auf den verbleibenden Kilometern begleiten. Im Näherkommen kann ich allerdings niemanden ausmachen, außer die Freiwilligen, die mich über den Stand des Rennens informieren. Sechzehnter soll ich sein, eine Frau liegt ebenfalls vor mir. Das verwirrt mich. Meine Annahme war, dass Teresa die Führung des Frauenfeldes innehat oder zumindest hatte, bis sich unsere Wege trennten. Ich stammle: „Sehr gut“, und beende meinen Boxenstopp mit einigen Schlucken Cola und gefüllten Flaschen. Direkt am VP ist ein Kilometerschild aufgestellt: 44,5 km. Meine Uhr hat gerade 44 km signalisiert. Ab jetzt ziehe ich von der Restdistanz also immer einen halben Kilometer ab, sehr erfreulich. So sind es etwas weniger als 16 km bis ins Ziel. Das kann ich mir gut vorstellen, weil es weniger ist als meine üblichen Trainingsrunden.
Ich mache mich wieder auf den Weg, Robert wird sicherlich am nächsten VP warten. Von dort liefen – oder besser: gingen – wir die restliche Strecke zum Ziel vor zwei Jahren. Oder haben wir uns vielleicht verpasst? Meine Ansage vom Vorabend war, dass ich um ca. 13 Uhr eintrudeln würde, dann, etwas leiser, 12:30 Uhr. Hat er das nicht mitbekommen? Auf der Uhr habe ich keine Nachricht registriert, allerdings waren einige WhatsApp-Gruppen außer Rand und Band und irgendwann hatte ich nur noch mit einem Auge hingeschaut. Warten will ich nicht und ich lasse auch das Handy wo es ist, ich will weiter, solange ich mich gut fühle.
Der Trail zwingt zum Gehen
Es geht abwärts, zurück ans Ufer, aber ich habe Probleme, den richtigen Weg zu finden. Uhr und Beschilderung sind uneins. Vielmehr ist es so, dass meine Uhr für einen sumpfigen Forstweg ist, ich aber keinen Wegweiser gesehen habe, der in die gleiche Richtung weist. Muss ich also auf der Straße bleiben? Ich entscheide mich für den Forstweg und erkenne, dass es gehüpft wie gesprungen ist. Beide Wege treffen sich weiter unten, wo alles Matsch ist.
Meinen Vorsatz bis Kilometer 47 ohne Gehpause zu laufen, schaffe ich im Angesicht des schwierigen Trails nicht. Vor Stunden, auf der gegenüberliegenden Seite des Schweriner Sees, hätte ich noch die Beine gehabt, das Gelände zu bewältigen. Vielleicht hätte ich sie jetzt auch noch und mir dienen die Umstände nur als willkommene Ausrede. Doch ganz unter uns: Ich bin inzwischen ziemlich müde und das Überwinden von Baumstämmen oder tiefes Bücken fällt mir schwer. Je nach Beschaffenheit des Pfades wechsele ich vom Laufen zum Gehen und zurück.
Nein, ich bin jetzt wirklich nicht mehr in der Lage, durchweg zu laufen. Doch auch der totale Einbruch bleibt aus. Immer wieder gelingt es mir, längere Stücke zu laufen. Das ist gut und viel besser als vor zwei Jahren. Für das Stück bis zum letzten VP benötigte ich damals so lang, dass meine Frau schon Sorge hatte, ich käme gar nicht mehr. Dass ich noch mehr laufe als gehe, motiviert mich dran zu bleiben. Der Läufer in neon holt mich wieder ein, ansonsten bleibe ich allein. Auch das spricht dafür, dass ich mich wacker schlage.
Noch steckt Leben in den Beinen
Auf dem Campingplatz in Seehof knacke ich nach dem Marathon nun auch die 50km-Marke, um die viereinhalb Stunden sind da vorbei. Ein Stunde werde ich wohl noch brauchen. Wenn es gut läuft. Die Kilometer 51 und 52 sind ok, nicht zu langsam, weil ich nur kurz mal ein paar Schritte gehe, um das Brennen aus den Beinen zu verscheuchen. Dem letzten VP bin ich nun ganz nahe. Als ich mich über ein kurzes Stück Bundesstraße Frankenhorst nähere, sehe ich Läufer, die bereits zum VP unterwegs sind. Kurz jubiliere ich innerlich. Sind das etwa vor mir liegende Läufer, zu denen ich aufschließe? Es werden immer mehr und mir fällt es wie Schuppen von den Augen: Das sind die 33er.
An dieser Stelle vereinen sich die Teilnehmerfelder von 33- und 60-km-Lauf. Es wäre auch zu schön gewesen. Aber es macht nichts, ich laufe nicht auf Ergebnis, sondern für und gegen mich. Und da sieht es ganz exzellent aus. Meiner Zeit von 2021 bin ich so weit voraus, dass ich vermutlich auch den Rest gehen könnte. Gehen ist ein gutes Stichwort. Die kleine Steigung zum Hotel in Frankenhorst gehe ich so wie viele von den Teilnehmern der kleinen Seenrunde, dann mache ich mich mit abflachendem Gelände wieder frisch ans Werk.
Kurz prüfe ich die Auslage am VP und weil ich Robert auch hier nicht antreffe, entscheide ich mich gegen einen Stopp. Mist, da muss was schief gelaufen sein. Wahrscheinlich war ich einfach zu früh dran, weil ich gestern Abend kein Vertrauen in meine eigene Leistung hatte. Für die nun verbliebenden sechs oder sieben Kilometer habe ich mehr als genug Reserven im Rucksack, Flüssigkeit ist das, was ich noch am besten vertrage.
Ein unerwartetes Wiedersehen
Schnell ist mit dem Laufen wieder Schluss. Direkt hinter der nächsten Kurve beginnt ein Anstieg, der mir einfach zu steil fürs Laufen ist. Bis zu seinem Ende werde ich gehen. Wandernd werde ich plötzlich von Teresa überholt. Ich bin einigermaßen perplex, auf positive Art beeindruckt. Sie zieht mir leicht davon, auch wenn ich sie noch eine Weile vor mir laufen sehe. Sobald ich am Scheitelpunkt des Hügels bin, laufe ich zunächst abwärts, dann entlang eines Feldes. Immer unwegsamer wird der Pfad, auf dem ich mich befinde und irgendwann zwingt er mich zum Gehen. Durch die Teilnehmer der kleinen Seenrunde, ist wesentlich mehr Betrieb auf der Strecke und es ist tröstlich, dass auch diese Läufer und Läuferinnen hier einige Passagen gehen müssen.
Am Ziegelaußensee laufen wir direkt an einem Hang, der zum See abfällt. Ausgetreten ist er so rutschig, dass ich nur stellenweise laufen kann, gehe sogar zu Boden. Der Läufer in Neon hat mich inzwischen wieder eingeholt, nachdem ich ihn am VP meinerseits zurückgelassen hatte. Gemeinsam begeben wir uns auf die letzten Kilometer, ohne dass es deswegen eine Absprache gibt. Er heißt Martin, erfahre ich. Langsam nähern wir uns der Stadt und es hilft mir, ihn an meiner Seite zu haben. Wer von uns beiden stärker beansprucht ist, kann ich nicht erkennen.
Nach einiger Zeit fragt er mich mit einem Seitenblick, ob wir gehen wollen. Gleich, hinter der Kurve, entgegne ich. Doch als wir erkennen, dass kurz dahinter ein Anstieg folgt, laufen wir noch bis dort, weil wir den ohnehin gehen müssen. Zwei Läufer aus dem 33er-Feld überholen uns und ich zolle ihnen Anerkennung dafür, dass sie die Steigung hoch laufen. Sie seien ja auch nur die Hälfte von dem gelaufen, was wir hinter uns haben, geben sie die Anerkennung zurück. Stimmt schon, aber jeder hat am Ende eines Rennens zu tun.
Der weite Weg um den Ziegelsee
Wir laufen wieder und haben Glück, dass wir beim Überqueren der Möwenburgstr. eine Lücke im Verkehr erwischen. Sie trennt den Ziegelaußen- vom -innensee, wo auch das Ziel liegt. Tatsächlich können wir linker Hand über den See hinweg den Verladekran am alten Speicher ausmachen. Martin stöhnt auf: „Gibt es nicht eine Fähre?“ Weit ist es nicht, aber nach 58 km zermürbt jeder Schritt. Dennoch bleiben wir in Bewegung. Jetzt wird deutlich, dass Martin trotz des Stoßseufzers noch mehr Reserven hat als ich. Davon zu sprechen, dass er mich stehenlässt, wäre übertrieben, er entfernt sich eher schrittweise. Ich meinerseits hole am südlichen Ende des Sees sogar die beiden 33er ein, die uns am Anstieg zuvor überholten.
„Das ist kein Berg, nicht mal ein Anstieg! Trotzdem geht das in die Beine.“, sagt einer zum Anderen. Er hat recht, es ist eine minimale Erhebung, die hinauf zur Knaudtstr. führt und ich pflichte ihm bei: „Doch, doch! Das ist ein Anstieg!“ Jetzt nur noch die Südseite des Sees umrunden und ein kleines Stück entlang des Ostufers nach Norden, dann ist es geschafft. Mir gelingt es, in Bewegung zu bleiben und wie gut es tut, dass ich noch andere Läufer überhole. Ich bin euphorisiert. Martin wackelt langsam davon und entscheidet sich für den Weg über die Grünfläche, ich nehme artig den Weg drumherum. Irgendwie für mein gutes Gewissen, weil ich weniger Meter auf der Uhr habe.
Vor Minuten hat Regen eingesetzt und wird immer stärker. Umso glücklicher bin ich, dass ich gleich ins Ziel komme. Doch der letzte Kilometer zieht sich endlos. Es ist eine echte Willenstat, nicht einfach stehenzubleiben und den Rest zu gehen. Schmerz lass nach! Dann bin ich auf der Zielgeraden, wenn man so will. Direkt vor mir befindet sich der Verladekran, dahinter der Zielbogen. Die Hafenpromenade liegt verwaist da, die Zuschauer haben sich vor dem Regen unter die Zelte im Zielbereich und das Vordach des Hotels geflüchtet.
Große Gefühle
Der Moderator gibt tapfer den Alleinunterhalter und begrüßt jeden, der ins Ziel kommt. Dann auch mich. Obwohl es keiner zur Kenntnis nimmt, reiße ich einige Meter vor dem Ziel die Arme nach oben, will meine Freude zeigen. Noch wenige Schritte, dann kann ich stehenbleiben. Ich bin 18. bei den Männern, erfahre ich über die Lautsprecher. Ok, viel wichtiger ist mir aber meine Zeit. Die Uhr stoppt bei 5:37:50 Std. und somit fast eine Stunde früher als vor zwei Jahren. Ich bin also jeden einzelnen Kilometer des Rennens fast eine Minute schneller gelaufen! Ich bin über die Maßen glücklich und viel weniger erledigt als gedacht. Mit der Medaille in der Hand gratuliere ich zuerst Martin, dann Teresa, die fünf Minuten vor mir ins Ziel gekommen und zweite in der Wertung der Frauen geworden ist.
Auf meinem Handy lese ich, dass meine Frau sich Sorgen macht, weil ich nicht zum vereinbarten Zeitpunkt am VP 4 war und trotz längerer Wartezeit auch nicht eingetrudelt bin. Inzwischen wären sie auf dem Weg zum Ziel. Ich schreibe, rufe dann an, teile mit, dass ich schon im Ziel bin. Mit einem alkoholfreien Bier in der Hand und einer Erbsensuppe überbrücke ich die Wartezeit. Alleine im Ziel angekommen zu sein hat zwei Seiten: Einerseits fehlt mir jemand, mit dem ich meine Gefühle unmittelbar teilen kann. Andererseits bin ich mit meinen Gedanken einen Moment allein und kann sie so ordnen, mit meinen Gefühlen klarkommen und komme ins Gespräch mit anderen.
Obwohl ich langsam vor Kälte zu zittern beginne, ist das Gefühl, das mich jetzt einhüllt, eine großartige Mischung aus Erschöpfung und Glückseligkeit, die ich nur erreiche, wenn ich meine an mich selbst gestellte Erwartung übertroffen, mich in einem langen Rennen selbst geschlagen habe. Das ist es, wofür ich diesen Sport betreibe, wofür sich jeder der 60.400 Meter heute gelohnt hat.
Der Lauf im Überblick
Distanz | 61 km |
Zeit | 5:37:50 Std. / 5:34 min/km |
Platzierung | 20. von 202 Teilnehmern |
AK-Platzierung | 6. von 27 (M40) |
Strecke | Vom Schloss aus geht es gegen den Uhrzeigersinn einmal um den Schweriner See. Die Strecke ist abwechslungsreich und mit vielen Höhepunkten ausgestattet. Läuft man zuerst noch auf Asphalt beginnt hinter Raben Steinfeld ein längerer Trail-Abschnitt bis Rampe. Dort schließt sich dann wieder eine längere Strecke auf Radwegen an, ehe es bei Schloss Wiligrad erneut über Trails geht. Die Strecke ist gut (und nachhaltig) markiert, eine Absperrung erfolgt nicht, d.h., man teilt sich den Kurs mit Radfahrern und Spaziergängern. |
Besonderheiten | Der Fotoservice ist herausragend. An diversen Stellen werden professionelle Bilder geschossen, die anschließend ins Internet gestellt werden. Auch die Zielverpflegung ist überragend. |
Der Lauf im Vergleich
Veranstaltung | Datum | Zielzeit | Pace | Differenz zur Bestzeit |
7. Schweriner Seentrail | 25.03.2023 | 5:37:50 Std. | 5:34 min/km | |
5. Schweriner Seentrail | 21.08.2021 | 6:36:33 Std. | 6:30 min/km | + 50:43 min |
Lieber Karsten, vielen Dank für deinen ausführlichen und bildhaften Bericht und Glückwunsch zum großartigen Finish. An welcher Stelle nach dem VP4 war die Streckenmarkierung nicht ganz eindeutig? Das nehme ich dann gleich auf unserer Verbesserungsliste für die Markierung im nächsten jahr. Viele Grüße Birger
Hi Birger, das ist nicht ganz einfach zu erklären. Zunächst war man noch ein kurzes Stück auf der Wiligrader Str. unterwegs, dann ging es einen Weg 400 m geradeaus, ehe man sich entscheiden musste. Entweder rechts auf die Wiligrader Str. zurück oder links auf einen Forstweg, der aber einigermaßen wenig benutzt aussah. Da hat mich meine Uhr hingeschickt, einen Wegweise gab es aus meiner Sicht.
Vielen lieben Dank für diesen langen und sehr wertvollen wie positiven Bericht. Wir werden den, wenn für Dich ok, gerne auf unserer Webseite verlinken, damit unsere Interessenten auf den richtigen Geschmack kommen…
Ihr könnt den Beitrag natürlich gerne verlinken. Danke und viele Grüße
Hi Karsten, vielen Dank für die Hinweise. Zusammen mit dem Strava-Track konnte ich jetzt die Stelle identifizieren. Es wäre tatsächlich noch 100 m weiter Richtung Straße gegangen und dann links auf dem Plattenweg Richtung See. Du bist über den „wenig genutzten Forstweg“ dort hingegkommen. Auf Karten gibt es den Weg gar nicht, ich vermute, dass er durch Forstarbeiten entstanden ist. Entsprechend hatte ich den Abzweig bei de Markierung nicht beachtet und nur etwas weiter ein rotes Band gehängt. Dies war am Dienstag bei der Demarkierung jedoch schon weg, evtl. war auch am Samstag nicht da, wodurch die Verwirrung entstand. Das die Uhr dich bereits dort nach links geschickt hat, kann ich mir nicht erklären. In jedem Fall, werde ich die Stell im nächsten Jahr etwas klarer kennzeichnen. Vielen Dank und viele Grüße Birger
Super! Herzlichen Dank noch einmal für die tolle Organisation