Schlagartig ist es dunkel im Hotelzimmer, der Fernseher ist aus. Der Strom scheint ausgefallen zu sein. Das macht es mir einfach, mich von der Dokumentation über Jean-Claude van Damme zu lösen, die ich zum Zeitvertreib geschaut habe. Aufbruch.
Bange machen gilt nicht
Mit meinem Rollkoffer stapfe ich durch den noch dunklen Kurpark von Heilbad Heiligenstadt zum Start des EICCUT65. Ich bin in mehrere Schichten gehüllt. Funktionsshirt und Jacke, die ich nachher zum Lauf tragen werde, darüber ein Hoodie und eine Jacke. Es ist ziemlich kühl, 4 °C. Viel mehr soll es heute nicht werden. Das kommt mir entgegen, ich laufe lieber bei kühlen Temperaturen, da kann ich bessere Leistungen abrufen. Möglicherweise liegt es daran, dass ich dann nicht ganz so große Probleme habe, den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Ich schwitze sehr stark.
Wenigstens darum muss ich mir heute keine Sorgen machen, wenngleich Sonne schon schöner wäre, als die graue Wolkendecke. Aber man kann nicht alles haben. Mehr Sorgen als ums Wetter mache ich mir um meine Leistungsfähigkeit. Bin ich aktuell in der Lage, an einem solchen Lauf erfolgreich teilzunehmen?
Letzte Woche hatte ich noch aus Feigheit gekniffen. Auf den letzten Drücker hatte ich einen Startplatz für die Sollingquerung ergattert und ihn dann verfallen lassen, weil ich fürchtete, nicht an meine Vorjahresleistung anknüpfen zu können. Dabei waren es „nur“ 48 km mit 1.000 Höhenmetern. Der EICUT65 hingegen führt über satte 65 km und lockt mit 1.500 Höhenmetern in der Ausschreibung.
Wo war nur die Form hin?
Lt. Track auf der Uhr sollen es weniger sein, was mich in der Vorbereitung ein wenig optimistischer stimmte. Vielleicht sind es also nur 1.200 Höhenmeter. Aber macht das einen so fundamentalen Unterschied? Ich suche schon seit dem Frühjahr meine Form, hatte sie nach dem richtig guten Schweriner Seentrail nach und nach verloren. Einerseits war es bestimmt das altbekannte Tief, das ich jeden Sommer durchschreite. Andererseits hatte mich aber auch ein angerissenes Kreuzband im rechten Knie einige Trainingswochen gekostet. Zudem habe ich die Vermutung, dass ich mich zwischendurch unerkannt mit COVID angesteckt hatte.
Folge: Ich hatte zu wenige Kilometer in den Beinen, vor allem die letzten Wochen waren schlecht. Auch meine Laufwerte waren wesentlich schlechter als im Vorjahr. Was also trieb mich jetzt zum Start? Der Mut der Verzweiflung? Die Hoffnung auf ein kleines Wunder? Irgendwas in dieser Richtung. Außerdem sollte mich der Lauf einfach motivieren, mich aus meiner Misere holen und mir einen Schub geben. Auf die Zeit kam es hier heute eh nicht an. Ich hatte keinen Vergleich, weil es mein erster Start werden würde und das Gelände versprach mit Sicherheit keine Fabelzeiten.
Der erste Anstieg sät Zweifel
Wie sich zeigt, bin ich viel zu früh am Start und schlage mir die Zeit um die Ohren. Es regnet leicht und noch ist es nicht richtig hell. Nach ein paar erläuternden Worten, werden wir ziemlich pünktlich um 8 Uhr auf die Strecke geschickt. Es ist Zeit, die Zweifel hinter mir zu lassen.
Zunächst schwimme ich mit dem Feld – ungefähr 500 m. Dann geht es los, die erste Steigung wartet. Aus dem Höhenprofil des Laufs war mir bekannt, dass es unmittelbar nach dem Start aus dem Talkessel hinauf gehen würde und bin entsprechend vorbereitet. Allerdings geht es doch ziemlich knackig hinauf. Kurz überlege ich, ob es sinnvoll wäre, hier bereits zu gehen, um Kräfte zu sparen. Und mir schießt auch die Frage durch den Kopf, ob ich nicht gleich umkehren soll. Ernsthaft.
Es ist der Respekt vor dem Lauf, den ich als Rücksack auf meinen Schultern spüre und der mir diese Gedanken einflüstert. Es ist nicht unüblich für mich, dass ich vor einem Ultralauf Bedenken habe, aber dieses Mal sind sie stärker als sonst.
Noch bin ich frisch und entscheide mich gegen das Gehen. Und schmeiße natürlich auch den idiotischen Gedanken ans Aussteigen über Bord. Doch brauche ich mir nichts vormachen. Die Gedanken werden bestimmt wiederkehren und auch zum Gehen werde ich noch gezwungen werden, ganz sicher sogar. Also lieber mit frischen Beinen ein paar Höhenmeter sammeln, bevor mir dazu später die Beine fehlen. Oder ist das vielleicht genau die Taktik, die mich abschießt? Passenderweise nennt sich der Forstweg, den wir uns hinauf kämpfen, Eselstieg.
Die erste Gehpause
Nach drei Kilometern sind wir am Dünkreuz auf ca. 460 m. Es ist nicht die höchste Erhebung des Dün, aber fürs erste haben wir den Gipfel erreicht. Einen Kilometer kann ich verschnaufen, weil es zuerst eben weitergeht, dann sogar hinab. Das ist nett, weil weniger anstrengend, aber gelaufen werden muss trotzdem. Klar unterstützt die Schwerkraft, aber anders als beim Fahrrad kann man nicht einfach rollen lassen. Auch wenn Läufer das gerne genau so umschreiben.
Drei Läufer holen mich auf dem Weg bergab ein, da sind sie offenbar schneller unterwegs als ich. Als es dann erneut hinauf geht, hole ich prompt zwei von ihnen wieder ein, weil sie ins Gehen verfallen. Zuerst setze ich dem Läufer nach, der stoisch weiter trabt, entscheide mich dann aber doch, es den Gehern gleich zu machen. Zu steil ist es hier und ich will dann doch nicht alle Kräfte gleich auf den ersten fünf Kilometern verheizen. Wir machen ein wenig Smalltalk und der Tenor ist: Nach diesem Anstieg lässt es sich die nächsten 30 Kilometer gut laufen. Das hört man gerne! Wobei schon einfach nur 30 km eine verdammt lange und harte Strecke sein können. Hügel hin oder her.
Oben angekommen, setzen die zwei Läufer ihren Weg unmittelbar fort, während ich noch kurz meinen Körper dazu überreden muss, sich wieder in Bewegung zu setzen. Er ist noch nicht so recht im Wettkampfmodus. Landschaftlich ist herrlich hier. Vor allem Buchen säumen den Weg und ihr Herbstlaub liegt auf den Wegen. Würde jetzt noch die Sonne herauskommen… Schön ist es auch ohne sie. Und es geht wieder hinab. Mit dem Gefälle lässt es sich gut laufen, wobei ich bemüht bin, nicht zu „überpacen“.
Von wegen 30 km rollen
Nebenbei nage ich bereits an meinem ersten Riegel herum. Mit den Produkten von SIS bin ich bisher immer ganz gut gefahren. Nicht immer lecker, aber – sehr entscheidend – wirksam. Nur: Je länger der Lauf, desto bedeutender wird die Frage, ob ich das Zeug noch hinunter bekomme und es bleibt, wo es bleiben soll. Der Bedeutung des Geschmacks nimmt also mit der Länge des Laufs zu. Und das, was ich heute leichtsinnigerweise ausprobiert habe, fällt eher nicht in die Kategorie „Gaumenschmauß“. Der Riegel ist anders als erwartet, eher ein Gel in fester Form. Kleine Stücke abbeißend, brauche ich bestimmt zwei Kilometer, ehe ich ihn gegessen habe. Immerhin habe ich früh mit der Zufuhr von Energie begonnen, aber auf den nächsten freue ich mich nicht. Wie immer ein Risiko, im Wettkampf Neues zu testen.
Schon nach nicht viel mehr als einem Kilometer entpuppt sich das, was mir der Läuferkollege zum Thema Anstiege gesagt hat, als Halbwahrheit. Jenseits einer Straße beginnt ein Anstieg, der sich volle fünf Kilometer zieht. Das weiß ich zum Glück nicht, als ich mich daran mache, den Weg hinan zu stürmen. Die Steigung ist nicht so hart wie bei den zwei zuvor bewältigen Anstiegen und anständig laufbar. Ich werde kaum langsamer und kann mich an der Umgebung erfreuen.
Teilweise führt der Weg entlang eines Waldes, rechts ist dafür viel freie Fläche, der Blick kann ungestört schweifen. Nicht ganz 10 km habe ich hinter mir, da taucht vor mir am Wegesrand eine von hohen Bäumen flankierte kleine Kapelle auf. So isoliert, wie sie dort am Feldrand steht, ist sie ein markanter Anblick und eine dankenswerte Ablenkung. Denn der Anstieg ist immer noch nicht vorüber. Kritisch prüfe ich meine Uhr und stelle fest, dass ich schon etwa 400 Höhenmeter bewältigt habe und der Anstieg gleich zu Ende sein müsste.
Langsam wächst das Selbstvertrauen
Was mir nicht gefällt: Es sind noch weit mehr Höhenmeter als erhofft. Die 1.200 Höhenmeter, die der Track versprach, werden locker übertroffen, das lässt sich jetzt schon ohne jeden Zweifel feststellen. Die Uhr weist weiter 900 Höhenmeter aus, plus das, was sie nicht voraussagt. Egal, meine Beine fühlen sich noch frisch und gut an.
Auf Burg Scharfenstein, die ich nach 12 km erreiche, werfe ich nur einen kurzen Blick. Ich interessiere mich viel mehr dafür, wo die Läufer vor mir entlanglaufen und was mir der Streckenposten mitteilt. Ob ich mich auskenne? Nein, überhaupt nicht, antworte ich wahrheitsgemäß. Er dirigiert mich eine Wiese hinab, dann soll ich links abbiegen. Aber Vorsicht, es wird steil und rutschig. Da hat er nicht zu viel versprochen. Es ist schlüpfrig und das Gefälle schiebt kräftig an. Selbst die beiden Quads, die das Läuferfeld begleiten und zufällig zeitgleich mit mir hier sind, haben alle Mühe hinab zu kommen.
Unten angekommen beginnt dann, was ich mir unter 30 km rollen vorstelle: Leichte Kilometer. Die Strecke ist leicht abschüssig oder wenigstens eben. Ein Fahrradfahrer überholt mich nach ungefähr 14 Kilometern und fragt mich nach meinem Befinden. Noch gut, gebe ich zurück. Noch. Die Zweifel sind nicht verflogen, aber mit jedem zurückgelegten Meter, jedem gewonnenen Höhenmeter scheinen die Zweifel abzunehmen. Mein Rucksack wird leichter.
Rund um den Stausee
Vorbei an Beinrode geht es entlang einer Eisenbahntrasse nach Birkungen. Die beiden Läufer, die mich nach dem ersten Abstieg eingeholt hatten, sind immer noch gerade so in Sichtweite. Doch in der Ortschaft verliere ich sie aus den Augen und verlaufe mich prompt. Für einige wenige Meter schlage ich an einer Kreuzung den falschen Weg ein. Kurz darauf komme ich an einer alten Frau vorbei, die so etwas murmelt wie: „Bekloppt!“ Habe ich mich verhört? Und wenn nicht, meint sie überhaupt uns Läufer? Es würde schon passen, ein Haufen Bekloppter sind wir definitiv.
Was ich nach 19 km für einen Arm der Leine halte, ist ein Stausee, stelle ich auf den nächsten Kilometern fest. Zunächst schlage ich aber erneut den falschen Weg ein und laufe am linken Ufer entlang, bis ich erkenne, dass ich rechtsherum muss. Wieder ein paar unnütze Meter. Und ich werde „verfolgt“, erkenne ich, sobald ich wende. Ein Fahrradfahrer ist nun vor mir auf dem Trail um den See und nicht weit hinter mir nähert sich ein Läufer.
Wie tückisch der Weg entlang des Sees ist, belegt der Sturz des erwähnten Fahrradfahrers. Er ist auf einer der unzähligen Wurzeln aus dem Gleichgewicht gekommen. Ich versichere mich im Laufen, dass er sich nicht verletzt hat und wir wechseln ein paar Worte. Ihm geht es gut, aber auf dem Weg bin ich im Vorteil. An der Ostseite beklatschen mich die Fahrer der Quads an der Sperrmauer und weisen mir den Weg nach Norden. Sie informieren mich: Fünf Kilometer noch bis zum VP.
Das erste Tief bahnt sich an
Uff, so weit noch! Wie weit bin ich eigentlich schon gelaufen? Ich sehe auf dem Display meiner Uhr nur die verbleibende Distanz bis zum Ziel, nicht die zurückgelegte. Klar, ich könnte das jederzeit mit wenigen Klicks ändern. Die Frage ist nur: Will ich das oder bleibe ich lieber im Ungewissen? Natürlich weiß ich auch aus der Restdistanz abzuleiten, wie weit ich gelaufen bin. 20 km plus ein kleines X.
Der hinter mir liegende Läufer schließt auf den verbleibenden Kilometern rund um die Birkunger Talsperre zu mir auf und zieht anschließend leicht davon. Ich spüre so etwas wie Ermüdung und Schwäche in mir aufkeimen. Nicht nur wegen des Überholvorgangs, aber sicher auch deswegen. An einem kleinen Anstieg hinauf zur nächsten Ortschaft – Breitenholz – liegt eine ziemliche platte und sehr tote Katze. Ihre auf der Fahrbahn verteilten Innereien sind kein erbaulicher Anblick. Schnell löse ich den Blick davon, mein Magen ist bei Ultraläufen ohnehin ein sensibles Thema. Trotz der momentanen Schwächephase: So tot wie die Katze bin ich noch nicht.
In Birkungen erwartet mich der erste VP. Halleluja, hat ja lange genug gedauert. Ich lasse mir Cola geben, die sehr nach Zitrone schmeckt. Auch meine Flasche lasse ich auffüllen, Essen lehne ich indes ab. Ich habe mich regelmäßig verpflegt und mich spricht nichts an, was ich erblicken kann. Nicht, dass das Angebot schlecht wäre, aber meinem Magen ist nicht nach fester Nahrung. Das zwischenzeitlich enteilte Läuferduo verweilt noch am VP und wieder werde ich informiert: Das Schlimmste hast du hinter dir. Einer der Helfer ist da nicht ganz so optimistisch und redet von viel zu vielen Bergen. Ich komme mir vor, wie im Basislager des Everest.
Das erste Tief bahnt sich an
Gerade kämpfe ich wieder mit großen Zweifeln, halte aber die Fassade aufrecht, beantworte die Frage, woher ich komme und schiebe hinterher, dass es dort nicht so viele Hügel gibt. Ist das vielleicht schon eine prophylaktische Entschuldigung, falls ich aussteigen müsste? Fürs Erste mache ich weiter, setze mich wieder in Bewegung. Es geht zum Einschüchtern gleich wieder aufwärts und oben angekommen voll gegen den Wind. Na bestens! Das ist nicht dazu angetan meine Laune und Zuversicht zu heben. Von Quälen möchte ich noch nicht reden, aber derzeit mühe ich mich.
Durch Breitenbach laufe ich noch, dann beginne ich zu gehen. Der Weg steigt an, nicht zu stark, doch spürbar. Das reicht mir als Entschuldigung. Wohl wissend, dass es noch weit, sehr weit bis ins Ziel ist. Ich fühle mich bestätigt. Meine Angst vor dem Lauf war nicht unbegründet, meine Form eben nicht dazu angetan, einfach so 65 km zu laufen. Zusammenreißen, weiterlaufen. Kurz hinter einer Unterführung verfalle ich aber wieder ins Gehen. Den Anstieg nach Worbis lege ich als Fußgänger zurück, passiere eine Brauerei und setzte mich wieder richtig in Bewegung.
Mein Kampfgeist ist noch nicht erloschen, aber mein Glaube ans Ankommen nicht sonderlich groß. Im Kampf mit meinen inneren Dämonen renne ich zu allem Pech auch noch an der Abzweigung vorbei, die ich hätte nehmen müssen. Abgelenkt hat mich auch die Frage, was ein „alternativer“ Bärenpark ist, der sich offenbar links von mir befindet. Beim Umkehren kommen mir zwei Läufer entgegen, die mich eingeholt haben. Ihr schierer Anblick rüttelt noch stärker an meinem Selbstvertrauen. Sie sehen wesentlich stärker aus als ich mich fühle.
Der Kanstein
Das Duo läuft vor, hat aber auf dem belaubten Waldwegen gleichsam Probleme, den Weg zu finden. Einer der Beiden schlägt ganz sicher den falschen Weg ein, das kann ich auf der Karte meiner Uhr eindeutig ablesen. Der andere Läufer ist unschlüssig, aber tendiert auch zu dem Weg, den ich einschlagen will. Ich weise ihn auf den Wegweiser hin, der uns unmissverständlich macht, was er soll: Den Weg weisen.
Mit vereinten Kräften versuchen wir den Fehlgeleiteten erfolglos auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Er hört unsere Rufe nicht und ist für meinen Geschmack schon zu weit den steilen Weg hinauf, um hinterher zu eilen. Wir setzen schulterzuckend unseren Weg fort. Ich habe meine eigenen Probleme. Und da es verpflichtend war, den Track auf der Uhr oder dem Handy zu haben, wird er seinen Irrtum früher oder später selbst bemerken.
Es geht nun so steil bergauf wie seit Stunden nicht mehr. Es muss sich um einen der Berge handeln, den der Helfer am zurückliegenden VP angesprochen hat. Oft ist für mich nicht mehr drin als zu gehen, doch da, wo es das Gelände zulässt, laufe ich. Ein gutes Zeichen. Plötzlich öffnet sich ein spektakulärer Blick nach links. Herrlich. Obwohl ich gerade laufe, stoppe ich meinen Flow und halte an für ein Foto. Ich bin auf dem Kanstein. Lange halte ich aber nicht inne. Das ist immer noch ein Wettlauf und der Weg zum Ziel weit.
Dog Stop
Mir gelingt es, ein größeres Stück zu laufen. Das fühlt sich gut an, macht Mut. Die tolle Herbststimmung im Wald beschwingt meinen Lauf. Unvermittelt halte ich an. Schäferhund allein unterwegs. Reflexartig stoppe ich die Uhr. Irrational, weil ich ja per Chip in meiner Startnummer gemessen werde. Aber Reflex ist Reflex. Vorsichtig trete ich ein paar Schritte zurück und suche nach etwas, das mich schützt. Ich hasse diese Begegnungen, mit nur einigen Millimetern dicken Funktionsklamotten einem umangeleinten Hund gegenüber zu stehen. Da könnte ich gleich nackt sein. Das Herrchen taucht auf und ich rufe ihm zu, er möge doch bitte den Hund an die Leine nehmen.
Sollte doch eigentlich selbstverständlich sein, aber trotzdem bedanke ich mich artig. Die Begegnung dauert nicht länger als 15 Sekunden, kommt mir aber länger vor. Und nervt mich. Mein Flow ist zerstört. Weil es jedoch abwärts geht, kann ich immerhin laufen. Als ich eine Ortschaft erblicke, macht der Kurs einen Rechtsknick und es geht wieder hinauf. Steigungen im zweistelligen Bereich machen jeden Gedanken ans Laufen zunichte. Selbst komplett ausgeruht, wäre es wie Perlen vor die Säue, hier hinauf zu stürmen. Die Kräfte fehlen später ganz sicher.
Die Mär vom letzten Anstieg
Der Fahrradfahrer, den ich vorhin am Stausee getroffen habe, schiebt. Wieder wechseln wir ein paar Worte und verabreden uns scherzhaft für den nächsten Berg. Rechts passiere ich eine Gruft, die ich als solche nicht wirklich erkenne. Sie gehört den Grafen von Wintzingerode. Die Burg, die ich nach einem Kilometer Anstieg erreiche, ist hingegen nicht zu übersehen. Burg Bodenstein lasse ich hinter mir und nähere mich dem zweiten VP, der auf einem Parkplatz untergebracht ist. Cola trinken, Wasser auffüllen. Die Helfer bauen mich auf: Das Schlimmste ist geschafft. Habe ich schon einmal gehört.
Dieses Mal möchte ich es aber glauben. Die zurückliegenden Anstiege gingen richtig ans Eingemachte, weiß ich zu berichten. Jetzt gibt es nur noch einen Anstieg bis zum Ziel, heißt es. Ich zweifle. Auf dem Höhenprofil habe ich das anders gesehen, aber ich will mich gerne täuschen lassen. Inzwischen ist der verirrte Läufer ebenfalls am VP angekommen. Er hat unsere Rufe nicht gehört, weil er Kopfhörer getragen hat, lächelt aber über seinen unfreiwilligen Umweg.
Die Wiedergeburt des Ultraläufers
Mit den Worten, dass das noch ein langer Spaziergang wird, mache ich mich auf den Weg. Erst etwas mehr als die Hälfte habe ich geschafft und meine Worte untermalen, wie ich mich fühle. Vom Laufen wechsle ich schnell wieder zum Gehen, weil es auch die nächsten zwei Kilometer noch bergauf geht. Moderat, aber nervig und kräftezehrend. Eigentlich gehe ich davon aus, dass mich der andere Läufer sofort schlucken wird, doch zumindest auf diesen zwei Kilometern ist das nicht der Fall.
Dann geht es bergab. Ich laufe, zuerst noch zaghaft, aber mit zunehmender Distanz immer selbstbewusster. Ich laufe mich regelrecht in einen kleinen Rausch und werde geradezu euphorisch. Sechs oder sieben Kilometer geht das so und ich muss nur an einem kurzen Anstieg pausieren. Das macht etwas mit mir. Mit jedem zurückgelegten Meter werde ich zuversichtlicher. Es fühlt sich an, als würde ich den Ultraläufer in mir wiederentdeckten. Klar spüre ich, dass es gerade anfänglich stark bergab geht, doch auch auf leichten Anstiegen oder eher ebenen Abschnitten laufe ich weiter.
Nach rund 42 Kilometern komme ich aus dem Wald und laufe auf eine Ortschaft zu. Ein Auto parkt am Wegesrand und plötzlich hämmert der Fahrer auf die Hupe. Es soll wohl eine Art Aufmunterung sein, doch erschreckt sie mich fast zu Tode. Darauf erst einmal ein Gel, denn ich spüre, dass der Rausch zu enden droht. Meine Verpflegung war kontinuierlich und ok, aber anderseits vermutlich nicht hinreichend, mich über die ganze Zeit zu bringen. Da hilft jedes einzelne Gel und ich gleichzeitig ein Akt der Selbstüberwindung. Die klebrige Masse schlucke ich so schnell ich kann herunter, um es hinter mir zu haben.
Im Eichsfeld gibt es nur Anstiege
43 km geschafft und vor mir liegt ein Fußballplatz, auf dem sich die Spieler gerade bereitmachen. Dahinter ist in einer Garage der nächste VP aufgebaut. Eine Frau klatscht mir zu, dann weitere Helfer. Ich verfahre wie gehabt, trinke etwas, lasse meine Flasche auffüllen und lehne das Essen dankend ab. Mein Magen will nichts von fester Nahrung wissen. Ob ich einen Kuss möchte, werde ich gefragt. Sehe ich so fertig aus, dass ich diese Art von Aufmunterung benötige? Dann sehe ich die Schokoküsse und muss lachen.
Ob ich das erste Mal dabei bin und wie es mir gefällt, werde ich gefragt. Ich antworte wahrheitsgemäß: Ja, das erste Mal und es ist hart, aber sehr schön. Weil ich noch im Hinterkopf habe, dass der Helfer am VP 2 von einem letzten Anstieg gesprochen hat, frage ich wo denn der nächste auf mich wartet. „Du bist hier im Eichsfeld, da gibt es nur Anstiege!“, erhalte ich als Antwort.
Dann nähert sich die erste Frau im Feld und ich mache mich wieder auf die Socken. Die letzten Kilometer haben mir Auftrieb gegeben, doch etwas hat der Anblick von Mel. Hatte ich mich allein gewähnt weit und breit? Mir eingeredet, alle anderen abgehängt zu haben? Vielleicht sowas in der Art. Möglicherweise macht mir auch der bevorstehende Berg Sorgen. Denn ich weiß dank des Höhenprofils meiner Uhr, dass gleich ein fieses Ding auf uns wartet – die Zinkspitze.
Ein Leierkastenmann läutet die ultimativen Kilometer ein
An herbstlich vollen Obstbäumen vorbei nähere ich mich dem mutmaßlich letzten Anstieg des Laufs. Lange muss ich nicht warten. Von Kilometer 46 bis 48 geht es praktisch nur bergan. Zeit zu gehen. Und selbst das Gehen treibt meinen Puls hoch. Umso glücklicher bin ich, als ich oben ankomme. So, das sollte jetzt wirklich das Schlimmste gewesen sein. Abwärts kann ich wieder laufen, aber leicht ist es nicht. Meine Fußnägel schmerzen, weil ich wegen des Abbremsens ständig vorne im Schuh anstoße. Und noch etwas schmerzt: Dann und wann touchiere ich beim Laufen mit dem linken Fuß meinen rechten Knöchel. Der reagiert zunehmend sensibel, fühlt sich geschwollen an. Ich habe einen Verdacht. Meine Kompressions-Beinlinge sind in Wahrheit ein Bein- und ein Armling. Das erklärt auch das leicht unterschiedliche Design.
Von hinten nähern sich Schritte und fallen dann wieder zurück. Das kann nur Mel sein. Wir kennen uns lose von der Sollingquerung und dem Schweriner Seentrail. Zuletzt ist sie beeindruckende Zeit gelaufen und heute offenbar auch besser drauf als ich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich stehen lässt. Bis Hundeshagen habe ich noch die Nase vorn. Als wir am inoffiziellen VP stoppen und ich mir eine Zitronenlimonade aufmache, zieht sie schon weiter.
Während ich zur Musik eines Leierkastenmannes weiter an meinem Getränk nuckle, kommt ein Läufer mit seiner Begleitung. Ich beginne zu rechnen. Mein jüngster Sohn hat mich mit dem Auftrag ins Rennen geschickt, unter die ersten 20 zu kommen. 12. war ich am 2. VP und seitdem hat mich nur Mel überholt. Ein paar Plätze darf ich also noch einbüßen. Ich kapituliere vor dem Rest in meinem Getränk und lasse den Rest einfach stehen.
Jetzt aber wirklich: Der letzte Anstieg
15 km noch – und es geht schon wieder hoch. Von wegen nur noch ein Anstieg. Das ist echt fies und tut beim Gehen schon weh. Es sind locker 75 Höhenmeter, die von Hundeshagen aus zu überwinden gilt, dann habe ich 51 km geschafft. Abwärts ist aber auch kein Vergnügen. Es geht über einen schlüpfrigen Wirtschaftsweg, vorbei an Kühen, die muhend den Hang hinablaufen. Fütterungszeit!
Was jetzt kommt, ist hart. Noch einmal geht es für eine schier endlose Zeit bergauf. Auf ungefähr drei Kilometern sind 150 Höhenmetern zu überwinden. Ich laufe nicht einen einzigen davon. Es sind schwierige Momente, die ich jetzt durchlebe, weil ich wirklich erschöpft bin. Die Natur lenkt mich wenigstens etwas von meiner Misere ab. Der Anblick des Herbstwaldes ist wunderbar und beim Gehen habe ich länger was davon.
Der Trail endet auf einer asphaltierten Straße und als ich die Kuppe erreiche, laufe ich wieder. Bergab geht das noch, Erschöpfung hin oder her. Einen Kilometer laufe ich die Landstraße hinab, dann erspähe ich den nächsten VP. Es ist der letzte für diesen Lauf und er liegt bei Kilometer 56 exakt gegenüber einer Wallfahrtskirche. Mel und das Duo haben den VP gerade verlassen, sind also nicht weit voraus.
Schade um die Pizza
Ich werde mit Applaus empfangen: „Ihr seid der Wahnsinn!“ Ja! Wahnsinnig vor allem. Aber ich nehme das Kompliment gerne an. Wie es bisher war, werde ich nicht zum ersten Mal heute gefragt. Hart, aber sehr schön. Leider kann ich weiterhin nicht essen und schlage auch die frische Pizza aus, die mir angeboten wird. Schon den Cracker bekomme ich kaum hinunter, lediglich Tee. Ob sie mich so überhaupt wieder auf die Strecke lasen können, werde ich gefragt. Notfalls, sage ich, gehe ich den Rest, das passt schon.
Als der nächste Läufer eintrudelt, nehme ich das als Anlass, die letzte 9,5 km in Angriff zu nehmen. 9,5 km! Nicht weit, wenn man ausgeruht ist. Jetzt scheinbar eine kleine Unendlichkeit. Mir ist übel, richtig übel. Minutenlang bin ich mir nicht sicher, ob ich mich übergeben werde. Bisher ist mir das noch nie passiert und auch heute beruhigt sich mein Magen wieder. Mir gelingt es sogar, zwei Kilometer bis zur A37 zu laufen. Teils in schneidendem Wind und Regen.
Die nächste Steigung gehe ich, wechsle auf der abschüssigen Straße nach Bodenrode wieder zum Laufen. Dort lege ich eine Pause ein, nehme mir vor, wenigstens 500 m zu gehen. Die Restdistanz bis zum Ziel in Heiligenbad ist auf 5 km geschrumpft und gleich muss der Leineradweg beginnen. Das spukt mir schon seit einigen Minuten durch den Kopf, da ich einen andern Läufer am Anfang des Rennens davon berichten hörte. Die letzten fünf Kilometer führt der Kurs auf besagtem Radweg entlang. Das hemmt mich, weil ich ahne, dass es ziemlich ebene fünf Kilometer werden. Keine Hilfe mehr durch ein Gefälle.
Schneckenrennen auf dem Radweg
Noch bevor ich auf dem Radweg bin, werde ich überholt, dann nochmals. Der zweite Läufer stoppt und fragt, ob alles ok ist. Er braucht sich nicht zu sorgen, ich bin nur durch für heute, wir sehen uns im Ziel. Der Läufer ist mit seinem Hund unterwegs, allerdings erst seit dem letzten VP. Weil ich sehe, dass die beiden ein gemächliches Tempo laufen, hänge ich mich einfach hinter sie und als Ron – so heißt der Läufer – das bemerkt, wartet er auf mich. Wir laufen gemeinsam und unterhalten uns.
Vielleicht 1,5 km geht das gut, ehe ich ihn vorschicke. Der Schmerz in der Muskulatur ist inzwischen zu groß, als dass ich ihn ertragen wollte. Es wird ein Wechsel aus langen Spaziergängen und sehr kurzen Laufphasen. Und als kurz nacheinander noch zwei Minihügeln überwunden werden müssen, fluche ich herzhaft. Scheiße, hier sollte es doch nicht mehr aufwärts gehen! Aber wir sind ja hier im Eichsfeld, erinnere ich mich, da gibt es nichts als Anstiege.
Jenseits einer Eisenbahnbrücke habe ich 65 km geschafft. Jetzt sollte das Ziel in Sichtweite liegen. Sollte. Ich kann nichts erkennen, das im Entferntesten nach Ziel aussieht. Oder Stadt. Ich habe ernsthafte Zweifel, dass ich dem Ziel so nahe bin, wie ich es sein sollte. Was, wenn die Uhr nicht genau gemessen hat und ich noch nicht so weit bin wie angezeigt? Läufer im Panikmodus! Ich stapfe stoisch unter einer Autobrücke hindurch und erkenne: Alles in Ordnung!
Auch zum Ziel gehts bergauf
Hinter der Brücke beginnt die Stadt und tatsächlich erkenne ich das Hotel, an dem ich vor mehr als sieben Stunden meinen Lauf begonnen habe. Das ist ein Scherz, denke ich, als ich die Rampe zum Parkplatz des Hotels erblicke. Irgendwie passt es. So oder so lasse ich es mir nicht nehmen, die letzten Meter zu laufen. Ein Junge sieht mich kommen und bestätigt, was ich in glücklicher Erschöpfung schon weiß: Gleich ist es geschafft. Ein paar letzte Meter noch, dann bin ich über den Zielstrich.
Mit der Medaille um den Hals stütze ich mich erschöpft auf den Oberschenkeln ab. Durchpusten! Mel fragt mich scherzhaft, ob ich beim Leierkastenmann versackt bin. Ich gebe ehrlich zu, dass ich ganz schön beißen musste. Aber es hat sich gelohnt.
Mein Ziel war es, unter acht Stunden zu bleiben. Das habe ich locker geschafft. Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich Schlimmes erwartet. Mein letzter Test über 45 km war nach etwa 30 km in einen Spaziergang ausgeartet und war am Ende echt hart. So gesehen war das heute ein Fortschritt. Nach der ersten großen Erschöpfung immer wieder größere Passagen gelaufen zu sein, hat zumindest einen Teil meines Selbstbildes wieder gerade gerückt. Mehr noch: Der Weg zu VP 3 war wie die Wiedergeburt des Ultraläufers in mir.
Meine Beine führen indes ihr eigenes Leben. Weil ich dringend eine Sitzgelegenheit brauche, habe ich mich in die offene Tür des VW Bullis gesetzt, in dem unsere Taschen deponiert sind. Mein alkoholfreies Bier bekomme ich nur mit Mühe getrunken. Immer noch habe ich Schwierigkeiten mit dem Magen. Erst als ich schon eine ganze Weile an dem Getränk genuckelt, einige Gespräche geführt und andere Finnischer beklatscht habe, kann ich an Essen denken. Die Pizza vom letzten VP ist inzwischen hier unten im Ziel. Und dieses Mal, verschlägt es mir nicht den Appetit, als eine Helferin den Pappkarton öffnet und eine üppig belegte vegetarische Pizza präsentiert: Ihr seid die Geilsten!
Der Lauf im Überblick
Distanz | 65,4 km |
Zeit | 7:17:12 Std. / 6:41 min/km |
Platzierung | 16. von 46 Teilnehmern |
AK-Platzierung | 5. von 9 (M40) |
Strecke | Der Kurs führt in einer großen Runde durch das Eichsfeld und weist in Summe 1.500 Höhenmeter auf. Es gibt immer wieder sehr schöne Abschnitte mit viel Wald und tollen Weitblicken, z.B. am Kanstein. Wer noch nie im Eichsfeld war, hat ausreichend Zeit es kennenzulernen. Es ist dringend angetragen, den Track auf der Uhr zu haben, da die Strecke nicht durchgehend beschildert ist. Wie üblich, teilt man sich den Verkehrsraum mit anderen Verkehrsteilnehmern. |
Besonderheiten | Die Ausstattung der VPs ist eine Wucht. Vor allem die frische Pizza war sensationell. |
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