40 km liegen hinter mir, als ich erstmals an diesem Samstag an einem Scheideweg stehe. Mit dem Handy teile ich das meiner Frau in Deutschland mit. Ich spiele mit dem Gedanken auszusteigen. Übelkeit hat mich so sehr im Griff, dass ich mich seit dem letzten VP vor eineinhalb Stunden nicht mehr verpflegt habe, trinken ist mühsam. Vielleicht befeuert auch der Blick auf das ibis-Hotel am Rande der Autobahn, die wir gerade überqueren, meine Lethargie.
Es ist ein Bilderbuch-Frühlingstag, die Sonne scheint und ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie ich mich gemütlich in ein Pariser Café setze oder eben auf den Balkon meines eigenen ibis-Hotels in Clamart. Das hätte ich mir doch verdient? Meine Frau sieht das anders, sie fordert mich per iMessage auf weiterzumachen. Genau das tue ich, widerwillig zwar, aber noch ist mein Wille nicht erloschen. Und das ist gut so, anderenfalls hätte ich wohl das Beste verpasst und wäre mit mir und dem ecoTrail 2024 nicht im Reinen.
Gewinnen heißt, dabei zu können
Ich fühlte mich schon als Sieger, als ich rechtzeitig den Bahnhof in Issy hatte. Offenkundig hatte ich das richtige Gleis gefunden. Zahlreiche andere Läufer und Läuferinnen warteten schon. Bauarbeiten wegen der Olympischen Sommerspiele hatten für Änderungen am Fahrplan und Unsicherheit bei mir gesorgt. Ohne Französischkenntnisse war ich auf die Künste der Übersetzungsprogramme angewiesen.
Jetzt konnte ich aufatmen. Zum Start im Freizeitpark von Saint-Quentin-en-Yvelines würde ich es schaffen. Die erste Hürde war genommen. Ein paar Minuten verblieben noch bis zur Abfahrt und ich vertrieb mir die Zeit damit, die anderen Teilnehmer zu taxieren. Dann traf mich die Erkenntnis mit einem Schlag: Ich hatte meinen Beutel fürs Ziel im Hotelzimmer vergessen. So ein Mist! Ok, dann musste es eben so gehen. Notfalls würde ich im Zielbereich in meinen Laufklamotten bleiben und dann schnell ins Hotel zurückkehren, um dort duschen.
Dazu müsste ich jedoch erst einmal die 82 km lange Strecke bewältigen. Ich hatte gehörigen Respekt davor. Es würde mein längster Lauf werden und die letzten Wochen waren überschattet von körperlichen Problemen. Erst hatte mein Knie plötzlich zu schmerzen begonnen, dann war meine Achillessehne am gleichen Bein von einem Tag auf den nächsten angeschwollen. Wohl eine Reaktion auf das geänderte Bewegungsmuster. Dazu kamen die schon fast chronischen Schmerzen am linken hinteren Oberschenkel.
Gerade noch rechtzeitig war davon keine Spur mehr vorhanden. Naja, zumindest kaum. Eine Stoßwellentherapie und regelmäßiges Dehnen hatten den Oberschenkel kuriert, die anderen Problemstellen hatten sich auf wundersame Weise von allein gebessert. Noch zwei Wochen vorher hatte ich an der Sinnhafttigkeit der Teilnahme gezweifelt, mir die ärztliche Unbedenklichkeitsbescheinigung nur pro Forma geben lassen. Heute dabei sein zu dürfen, war also ein wahrer Glücksfall, schmerzfrei laufen zu können das i-Tüpfelchen.
Tausende Ultraläufer in Volksfeststimmung
Körperlich kuriert, waren die Zweifel nicht gleichsam verschwunden. Schon für gewöhnlich neige ich zu Selbstunterschätzung, sehe mich selbst trotz einiger erfolgreicher Ultramarathons immer noch nicht als „richtiger“ Ultraläufer. Insofern war das ungewohnt große Teilnehmerfeld ein Brandbeschleuniger für meine Selbstzweifel. Bei den Ultraläufen, an denen ich zuletzt teilgenommen hatte, waren selten mehr als ein paar Dutzend oft bekannter Gesichter.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, 3.000 Starter und Starterinnen für ein solches Rennen zu finden, abgesehen evtl. vom UTMB und anderen Flagschiffrennen. Nicht einmal der Rennsteiglauf stößt in solche Dimensionen vor.
Obendrein schienen die Teilnehmer dem Lauf heiter und gelassen entgegen zu sehen. Auf dem Gelände des Freizeitparks Saint-Quentin-en-Yvelines herrschte Volksfeststimmung, während mich die Nervosität auffraß. Auch weil ich mich nicht in ein angeregtes Gespräch flüchten konnte und mit mir und meinen Gedanken alleine blieb. Ich war allein in Paris und der Sprache nicht mächtig. Mir schien, ich sei angesichts der vor ihm liegenden Herausforderung der Einzige mit gestrichen vollen Hosen
Kampf um die Startplätze
Das Schmatzen der Wiese, auf der der Lauf gestartet wurde, ließ mich außerdem an der Richtigkeit meiner Schuhwahl zweifeln. Es würde schön matschig werden, hatte tags zuvor eine Teilnehmerin aus einer deutschen Gruppe prophezeit, als ich ein Foto von ihr schoss. Offenbar hatte ich mich nicht genug informiert und auf Straßenschuhe gesetzt, auf gut laufbare Wege gehofft und die Trailschuhe im Schrank gelassen. Weiterer Nährboden für meine Zweifel.
Es wurde Zeit für den Start, das würde die Gedanken erst einmal zum Schweigen bringen. Nur musste ich dazu zuerst in den Startbereich, der penibel mit Gittern abgesperrt war. Direkt davor hatten sich die Läufer dich an dicht versammelt. Darunter auch ich. Fürs Umfallen war kein Platz. Der Start erfolgte in Wellen nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Es war ein regelrechtes Hauen-und-Stechen um die Plätze in den frühen Startwellen ausgebrochen und ich konnte von Glück reden, die zweite Welle erwischt zu haben. Nicht aus Ehrgeiz, jede Minute früher im Ziel versprach einen entspannteren Abend im Hotel. Der Flug zurück nach Hause stand bereits morgen Früh an.
Als der Moderator endlich den Countdown für den Start beendet hatte und wir unter Jubel auf die Strecke geschickt wurden, reagierte ich emotional. Tränen waren mir in die Augen geschossen, hervorgerufen durch die Freude über die Teilnahme an diesem Rennen und aus Erleichterung, dass es endlich losging. Jetzt begann der einfache Teil – das Laufen.
Im Hochgefühl der ersten Kilometer
Sobald wir den Rasen verlassen und die erste extrem matschige Stelle passiert hatten, fühlte ich mich auf den ersten Kilometer mit der Wahl meiner Schuhe gar nicht schlecht beraten. Pfützen ließen sich umlaufen und ansonsten war alles gut laufbar. Sogar ein größerer Anteil geteerter Wege stand an, nachdem wir das Gelände um den See von Saint-Quentin verlassen hatten. Alles halb so wild. Und das Beste: Ich fühlte mich so gut wie seit Wochen nicht mehr. Schmerzfrei zu laufen tat so gut!
Meine Stimmung sollte noch weiter steigen. Direkt hinter dem Freizeitpark lag gleich der stimmungsvolle Höhepunkt dieses ersten Abschnitts, das Vélodrome von Saint-Quentin-en-Yvelines. Eine komplette Überraschung für mich, da ich mich mit dem exakten Streckenverlauf lediglich oberflächlich befasst hatte. Nicht genau zu wissen, was einen erwartete, hatte Vor- und Nachteile zugleich. Ich konnte alles auf mich zukommen lassen, ganz entspannt und einfach genießen. Musste mich nicht stressen wegen irgendwelcher Schwierigkeiten vor mir auf der Strecke. Die Glückseligkeit des Unwissenden. Nachteil: Man kann böse überrascht werden.
Denn der Anschein, dass es vielleicht doch ein urbaner Lauf durch die Satellitenstädte vor den Toren von Paris werden würde, schwand mit jedem Meter, den wir Saint-Quentin-en-Yvellines hinter uns ließen. Es wurde ruhiger und die Wege schwieriger. Dem Matsch auf der Kleidung nach zu urteilen, waren einige Teilnehmer bereits jetzt zu Boden gegangen. Dabei war bis hierher alles nur Vorgeplänkel, wie sich zeigen sollte.
Durch knöcheltiefen Schlamm
So richtig eklig wurde es erstmals nach 17 oder 18 Kilometern. Was ein Weg hätte sein sollen, war ein knöcheltiefer morastiger Pfad aus Schlamm, der sich über einen Kilometer hinzog und meine grünen Laufschuhe ocker färbte. Nun hatte auch ich begriffen, dass die Veranstaltung den Zusatz „Trail“ nicht nur zur Zierde im Titel führte. Während ich mich wenigstens bemühte, einigermaßen trockenen Fußes durch den Schlamm zu kommen, waren andere Teilnehmer weniger zimperlich. Mit lautem Schmatzen überholten mich immer wieder eilige Läufer und bespritzten mich dabei mit Schlamm. Schönen Dank auch!
Aber das hier war ja auch kein Schönheitswettbewerb, sondern ein Ultramarathon. Dafür bekam ich maximal naturnahe Einblicke ins Pariser Umland. Viel, viel Grün, immer wieder kleine Seen und Teiche und allerlei farbenfrohe Frühlingsblumen. Und immer mehr Anstiege. So langsam begannen wir einige der veranschlagten 1.100 Höhenmeter abzuarbeiten. Nach ca. 21 km zwang mich im Forestière de Breuil ein besonders knackiger Anstieg zum Gehen, sodass ich die erzwungene Wanderpause als Gelegenheit nutzte, meine Energiereserven aufzufüllen. Im Gehen ist das wesentlich einfacher als im Laufen.
Das Gegenteil von gut, ist gut gemeint
Schon beim Auspacken des Blocks von Lucho beschlichen mich Zweifel, ich hatte nicht allzu gute Erinnerungen an meine Versuche damit bei meinem Lauf auf dem Fisherman’s Trail, hatte ihm aber noch eine zweite Chance geben wollen. Eine Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen. Bis hierhin hatte ich alles gut vertragen, das Gel und auch das Experiement mit Cranberries und Weingummis. Der Energieblock hingegen bekam mir überhaupt nicht.
Schlagartige Übelkeit schlug mir voll auf den Magen. Schlimmer noch: Es schlug mir vor allem aufs Gemüt. Erstmals fühlte ich heute eine leichte Erschöpfung, wurde der Lauf mühsam. Nicht so sehr jedoch, dass ich ernsthaftere Konsequenzen in Betracht zog. Schließlich war ich dem ersten VP am Château du Haut-Bus in Masotte schon nahe und tat die Übelkeit als vorübergehendes Problem ab. Vielleicht noch drei Kilometer, dann könnte ich auf andere Verpflegung umsatteln, das würde meinen Magen kurieren.
Von diesem Lapsus würde ich mir nicht den Lauf versauen lassen, es war bis hierhin der Beste seit langen Wochen. Doch auch der erste VP konnte meine Probleme nicht wirklich lindern. Ich nahm etwas Käse und Cracker, füllte mein Wasser – reichlich gechlort – auf und machte mich wieder auf den Weg. Der VP war gut besucht und es herrschte reges Gedränge, das ich als unangenehm empfand. Entsprechend schnell ging ich wieder auf die Strecke. Immer noch der Überzeugung, dass die Probleme vorübergehender Natur waren.
Mein Problem, dein Problem
Die Übelkeit blieb und über die nächsten Kilometer spürte ich wie meine Zweifel wuchsen und meine Zuversicht Schritt für Schritt schwand. Das Laufen fiel mir immer schwerer, was nicht nur auf den zunehmend schwieriger werdenden Kurs zurückzuführen war.
Immer mehr Anstiege erwarteten uns und ich war einfach nicht mehr in der Lage, eines meiner Gels zu mir nehmen. Was ich noch hinunterkam, waren meine Weingummis, von denen ich aber nur eine Handvoll in den Ziplock-Beutel geworfen hatte. Nachher ist man bekanntlich immer klüger. Wasser vertrug ich auch nur in kleinen Schlucken und der Chlorgeschmack war nicht hilfreich. Kurzum: Es ging mit mir schneller bergab als mir lieb sein konnte. Eben noch oben auf, jetzt in einer echten Krise.
Andere hatten ihre eigenen Probleme. Hier setzte sich jemand auf eine Bank, hatte offenbar Knieprobleme, dort ging jemand zu Boden. Mir ging es noch immer nicht so schlecht, dass ich nicht mehr hätte laufen können, aber meine Leichtigkeit war verschwunden und mit ihr bröckelte die Zuversicht, den Rest der Strecke bewältigen zu können.
Nicht nur mir ist übel
Andererseits waren meine Beine weiterhin gut und die Strecke trotz des manchmal schwierigen Untergrunds oft herrlich zu laufen. Am Fuße eines der vielen kleinen Hügel funkelte ein Teich im Sonnenschein, Schildkröten sonnten sich. Es war ein zauberhafter Frühlingstag, perfekt zum Laufen.
Unmittelbar am Ende eben jenes Anstiegs wartete jemand mit einem selbst gemachten Schild auf. Auch ohne Französischkenntnisse konnte ich die Bedeutung locker erraten: 37,21 km hatte ich hinter mir. „Erst?!“, schoss es mir schlagartig durch den Kopf. Ich hatte auf dem Display die Navigationskarte aktiviert und die letzten Kilometer nicht mehr überprüft, wusste also nicht, wie weit ich gekommen war. Ich hatte mit mehr gerechnet und die Erkenntnis versetzte meiner Zuversicht einen weiteren Schlag.
Links von mir stand ein Läufer am Rande des Weges auf dem Grünstreifen. Die Art, in der er sich vornüber beugte, ließ erahnen, was gleich geschehen würde. Würgegeräusche bestätigten einige Augenblicke später, was absehbar war. Meine eigene Übelkeit erreichte neue Höhen. Sollte ich dem Drang nachgeben, mich ebenfalls übergeben oder dagegen ankämpfen? Ich kämpfte. Gegen die Übelkeit, gegen die Zweifel.
Am Scheideweg
Dann habe ich direkt hinter einer Autobahnbrücke 40 Kilometer hinter mir und stehe am Scheideweg. Ein anderer Läufer gestikuliert gut gelaunt und teilt mir etwas auf Französisch mit. Ohne ein Wort zu verstehen, interpretiere ich, dass man auf der Autobahn in nur wenigen Minuten nach Paris gelangen kann.
Für mich ist es in diesem Moment nicht vorstellbar, das Rennen fortzusetzen und erst der Dialog mit meiner Frau lässt mich halbherzig weitermachen. Weil das Gelände weiterhin schwierig bleibt, laufe ich weiterhin sehr langsam, gehe viele Anstiege. Die Kilometer vergehen im Zeitlupentempo. Ich habe vergessen, nach welcher Distanz der zweite VP kommt und erwarte ihn deshalb eigentlich jeden Moment. Irgendwie hat sich in meiner Vorstellung festgesetzt, dass wir das Schloss Versailles passieren, der VP vielleicht dort liegt.
Der Gedanke treibt mich vorwärts. Wenn ich aussteige, dann kann ich wenigstens noch Versailles sehen. Nach etwa 45 km führt der Weg einmal mehr abwärts, aber so, dass er laufbar ist. An die Fersen einer noch frisch wirkenden Läuferin geheftet, finde ich auf einmal wieder in einen Rhythmus, setze über Baumstämme hinweg und spüre neue Zuversicht in mir aufwallen. Weit kann es zum VP definitiv nicht mehr sein und das scheint die Lebensgeister in mir zu wecken. Wir kommen aus dem Wald heraus und betreten eine weitläufige Gartenanlage, die von der Silhouette einer Kirche überragt wird.
Ist das Versailles? Offen gestanden habe ich keine Ahnung, nur eine vages Bild in meinem Kopf. Und wenn schon. Wichtig ist, dass ich mich verpflege. Treppen beenden meinen Lauf fürs erste und ich nehme sie gehend. Bekannte warten auf die Läuferin vor mir. Die Glückliche!
Rienne!
Am oberen Ende der Treppen, direkt unterhalb eines imposanten Gebäudes ist der zweite VP aufgebaut. Es ist nicht Versailles, sondern das Orphelinat Saint-Philippe, ein ehemaliges Waisenhaus, das heute als Bildungseinrichtung genutzt wird. Mein Blick schweift über die Tische, taxiert die Auslage. Viel gibt es nicht. Cracker, Studentenfutter, Wasser und Apfelsaft. Von letzterem scheinen nur noch Reste vorrätig zu sein. Das habe ich nach dem exzellenten Verpflegungsangebot am zurückliegenden VP nicht erwartet.
Zielstrebig steuere ich den Stand mit dem Apfelsaft an. Konsequenterweise gibt es keine Becher, sodass ich meinen wiederverwendbaren Faltbecher aus dem Rucksack pulen muss, er ist ein Teil der Pflichtausrüstung. Großzügig geschätzt fasst er 200 ml und die Reste in den Schläuchen reichen genau für drei Füllungen. Dann vernehme ich das französische Wort „Rienne“. So viel verstehe ich doch, dass ich die Bedeutung kenne: Der Saft ist leer.
Mit meiner Beute sitze ich im Schatten und schreibe meiner Frau, die mir Mut macht. Bis zum nächsten VP sind es 12 Kilometer beantworte ich ihre Frage. Das schaffe ich locker, baut sie mich auf. Meine weit weniger optimistische Antwort ist, dass ich schwanke zwischen Aufgabe und „erst einmal weitermachen.“ Es ist kein Köder, um Mitleid oder Unterstützung zu bekommen. Es ist mir ernst mit meinen Überlegungen. Auf dem Boden sitzend, beobachte ich meine Wadenmuskeln zucken. In meinen Beinen ist Anarchie ausgebrochen.
Ein Blick aufs Ziel
15 Minuten verweile ich, dann packe ich es doch, laufe sogar nach einigen Schritten an, bis es bergauf geht. Am Gelände des Chateau Meudon weist ein Helfer einen „Mitläufer“ ab. Es entsteht ein kurzer Wortwechsel, den ich wie folgt interpretiere: Kein Zutritt ohne Startnummer. Da hatte wohl jemand einen Unterstützer an seiner Seite.
Wir umrunden einen Teich, der die Form eines Sechsecks hat und steuern auf eine riesige Halle zu. Für einen kurzen Augenblick nehme ich an, dass wir nach dem Velodrome zum zweiten Mal in ein Gebäude laufen, doch der Kurs führt an dem ehemaligen Luftschiff-Hangar – dem ältesten der Welt – vorbei und in Richtung des Schlosses von Meudon, das wir über eine steile Rampe erreichen.
Noch einmal müssen wir Treppen nehmen und sind dann im Park des Observatoriums. Von hier oben breitet sich Paris in all seiner Größe vor uns aus. Schon am letzten VP konnte man Paris erkennen. Der Ausblick, der sich jetzt bietet, ist um ein Vielfaches beeindruckender. Selbst den Eiffelturm – das Ziel der Ziele für heute – kann ich ausmachen. Dort anzukommen, kann ich mir noch immer nicht vorstellen. Trotzdem ist der Blick von hier einfach nur toll, toll, toll. Allein hierfür hat sich der Lauf irgendwie schon gelohnt.
Eine wundersame Wandlung
Auf meinem Weg durch den streng geometrischen Park überholt mich eine alte Dame in Pink. Sie ist schätzungsweise an die 70 Jahre alt und ich habe sie schon vor Stunden in der Masse der Läufer bemerkt. Kein Kunststück, bei dem Outfit! Ich bin unentschieden, ob ich beeindruckt oder demoralisiert sein soll. Vorerst muss ich sie ziehen lassen.
Dann passiert etwas in mir, mit mir. Zunächst gelingt es mir, einen Kilometer am Stück zu laufen, vielleicht etwas mehr. Kurzes Gehen, dann laufe ich wieder und so bleibt es. Auf dem Abschnitt zwischen Kilometer 50 und 57 km unterbrechen nur Steigungen mein Laufen. Ich habe einen Schritt gefunden, mit dem ich mich arrangieren kann. Er tut nicht zu sehr weh und ich komme vorwärts. Nicht, dass ich noch Fabelzeiten liefe, aber ich laufe!
So überhole ich reihenweise Läufer und Läuferinnen, die ich kürzlich habe ziehen lassen. Auch den Pink-Panther. Das ist legales Doping, beflügelt mich. Plötzlich sieht alles ganz anders aus, kann ich mir vorstellen zu finishen. Ich bin in einer Art Rauschzustand, vielleicht habe ich ein spätes Runner’s High. Das Gelände ist dabei gar nicht mal einfach zu laufen. Es bleibt ein Trailrun und nicht alle Trails sind problemlos laufbar. Jedenfalls nicht mit meiner ermüdeten Muskulatur.
Vertraute Pfade
Nach etwa 55 km dämmert mir, dass ich mich auf bekanntem Terrain bewege. Schon vorgestern hatte ich – weil ich die Füße nicht stillhalten konnte und Bock aufs Laufen hatte – einen 18 km langen Lauf absolviert. Jetzt erkenne ich, dass ich mich genau hier entlang bewegt habe. Der Fernsehturm ist unverkennbar, aber auch weniger augenfällige Stellen erkenne ich wieder.
Was ich erst später mitbekomme: Schon viel früher, bereits nach ungefähr 41 km, kreuzte ich kurz die Route meines Trainingslaufs und war nach ungefähr 45 km meinem Hotel so nahe, dass ich zehn Minuten später auf dem Hotelbett hätte liegen können, ein Bier in aus der Bar in der Hand und eine dampfende Pizza neben mir. Wäre ich mir dessen in meinem Tief bewusst gewesen, ich hätte der Verlockung vielleicht nachgegeben.
Stoisch absolviere ich Kilometer für Kilometer. Woher die neue Energie kommt, ist mir nicht klar. Und ganz ehrlich: Es ist mir scheißegal, Hauptsache ist, dass sie da ist. Weiter, immer weiter. Vorwärts nach weit. Was auch immer.
Ich will Coke! Richtige Coke!
Kurz vor dem dritten VP zwingt mich ein langer Anstieg zum Gehen. Dann erreiche ich eine Wiese, die durch ein Tor betreten werden muss. Es mutet an wie ein Ziel, weshalb ich kurz verwirrt bin. Ist das der Zieleinlauf für eine andere Distanz? Umschlossen wird die Wiese von einem Rechteck weißer Zelte, erleuchtet durch mobile Flutlichtanlagen. Die Dämmerung hat eingesetzt.
Zuerst steuere ich den Getränkestand an. Es gibt Cola – von Sodastream. Das auf Sirup basierende Gesöff ist nicht richtig gesprudelt und schmeckt wie eine tagelang in der Sonne vergessene Coke. Kurzum: Beschissen. Das bestärkt mich in meinem Hass auf meinen eigenen Sprudler. Für meinen eh strapazierten Magen ist die Plörre eine echte Herausforderung. Ich fülle mir trotzdem etwas in meine Softflask. Immer noch besser als Wasser.
Gleich neben mir stehen Plastikwannen mit Schinkenstückchen und Käsewürfeln. Ersteres käme eh nicht in Frage und den Käse will ich meinem Magen nicht zumuten. Ein Läufer neben mir hat weit weniger Probleme mit der Verträglichkeit und ist scheinbar auch kein Vegetarier. Händeweise schaufelt er sich den Schinken rein. Schnell wende ich mich ab.
Bilder wie nach einer Naturkatastrophe
Weiter hinten auf dem Gelände gibt es Nudelsuppe. Es ist Zeit, meinen vorher auswendig gelernten Satz anzubringen: „Est ce vegetarienne?“ Die Helferin tut mir den Gefallen, geht nach hinten und sieht auf der Großpackung nach. Es ist mir fast einerlei, denke ich, während sie die Packung studiert. „Legumes!“, verkündet sie schließlich zufrieden.
Ich lasse mir etwas Suppe in einen Pappteller füllen. Der Lauf ist tatsächlich nachhaltig und jetzt weiß ich auch, warum ich neben meinem Trinkbecher ein weiteres Gefäß mitführen soll. Der zusätzliche Becher steckt in meinem Rucksack und so nehme ich dankbar die Pappschale. Mangels freiem Stuhl, hocke ich mich mit meiner Brühe einfach auf den Rasen. Auf das bisschen zusätzlichen Dreck kommt es schon lange nicht mehr an. Schlürfend beobachte ich das Geschehen um mich.
Im Schein des kalten Lichts der Scheinwerfer sitzen überwiegend verschwitzte, ausgelaugte und von Dreck überzogene Personen auf Stühlen oder wie ich auf dem Boden. Manche stehen vornübergebeugt, andere werden auf Liegen massiert. Dreckverschmierte Leute irren ziellos umher, leere Gesichter, müde Gesichter. Die Szenerie erinnert mich an die klassischen Aufnahmen aus Auffanglagern, wie man sie nach Naturkatastrophen in den Nachrichten sieht.
Weg mit dem Dreck!
Wohl eine Viertelstunde verweile ich, ehe ich mich wieder auf die Strecke begebe. Nicht, ohne mit Nachdruck alle Gels aus meiner Weste zu entsorgen. Ihre bloße Existenz, ihr Anblick bringt mich an die Kotzgrenze. Sonst bin ich guter Dinge. Klar, ich bin weiterhin platt, aber die letzten Kilometer lassen mich mit Zuversicht auf die nächste Etappe gehen.
Meiner Frau habe ich seit Stunden nicht mehr geschrieben. Warum eigentlich? Auch jetzt nicht. Vielleicht will ich das fragile Gleichgewicht aus Erschöpfung und restlicher Energie nicht stören, vielleicht will ich sie später damit überraschen, dass ich schon so weit bin. Dass ich die Brocken nicht hingeschmissen habe, kann sie sich auch so denken. In diesem Fall hätte ich sie ganz sicher informiert.
Nach 60 km verlassen wir kurz den Wald und laufen für einen knappen Kilometer durch eine Ortschaft vor den Toren Paris. Menschen feuern uns an. Wie schon in den Stunden zuvor höre ich immer wieder „Allez, allez!“ – es ist wie bei der Tour de France. Häufig höre ich auch „bon Courage“, das übersetze ich mir wörtlich mit „guter Mut“. Das trifft es ganz gut, was man neben Training für einen Ultralauf braucht: Mut, um sich überhaupt auf so eine Strecke zu wagen. Gerade am Anfang kann die schiere Länge der Strecke entmutigend wirken.
Dämmerung
An der Nordseite verlassen wir die Stadt über eine steile Treppe, die in einen Anstieg mündet und verschwinden wieder im immer dunkler werdenden Wald. Die Anstiege setzen mir in doppelter Hinsicht zu: Körperlich und mental. Sie sind meist schon lange nicht mehr laufbar für mich, das ist nicht überraschend. Aber selbst Gehen ist schon fordernd genug und versetzt meiner Zuversicht regelmäßig einen Hieb.
Bisher kam der Mut und die Kraft zum Laufen nach jedem Aufstieg wieder zurück. Aber wie lange geht das noch gut? Meine Verpflegung ist gelinde gesagt miserabel. Es gäbe wohl Dinge, die ich vertrüge: Neidisch blicke ich auf Tüte Fruchtgummis, aus der sich ein Läufer neben mir bedient. Irgendwoher nimmt mein Körper noch immer Energie zu laufen, dem Raubbau zum Trotz. Entlang an einem weiteren Stausee – dem wievielten heute kann ich gar nicht mehr sagen – arbeite ich mich durch die Kilometer 62 und 63.
Den nachfolgenden Hügel nutzen einige Läufer, um ihre Stirnlampen herauszuholen. Ich zögere noch. Das Licht der anderen Teilnehmer hilft mir und ich bin schlicht zu erschöpft, den Rucksack abzusetzen, die Lampe herauszusuchen und aufzusetzen. Das Momentum zu unterbrechen, ist immer ein Risiko. In Bewegung bleiben ist einfacher, als sich wieder in Bewegung zu setzen.
Daher lasse ich die Lampe auch im Rucksack, als es schon an Unvernunft grenzt. Meine Pace liegt maximal um die sechs Minuten pro Kilometer, ist also weit von „halsbrecherisch“ weit, weit entfernt. Aber ich fordere mein Glück geradezu heraus.
Eine Bank in der Dunkelheit
Es geht aber alles gut. Noch immer kann ich den Weg einigermaßen ausmachen und die Läufer um mich herum, spenden mir das nötige Licht, um die nächsten vier oder fünf Kilometer zu bewältigen. Dann verschlechtert sich mein Zustand rapide. Es gibt keinen isolierten Anlass, kein ausschlaggebendes Ereignis, das mich niederstreckt. Vielmehr ist es die Kumulation der Anstrengung auf körperlicher und mentaler Ebene. Das empfindliche Gleichgewicht, in dem ich mich über Stunden bewegt habe, ist aus der Balance geraten.
Es war eigentlich absehbar, dass ich irgendwann größere Probleme bekommen würde. Gerade auch, weil ich viel zu wenig trinke bzw. trinken kann. Vom Essen ganz zu schweigen. Seit Kilometer 20 bewege ich mich immerfort an der Kotzgrenze, begleitet mich zur körperlichen Anstrengung eine zermürbende Übelkeit. Obwohl die Strecke jetzt seicht abwärts führt, fällt es mir immer schwerer eine Laufbewegung aufrecht zu erhalten. Ich wechsele immer häufiger ins Gehen. Der Schweiß auf meiner Haut fühlt sich kühl an und meine Atmung ist angestrengt.
Dem mithilfe von Google übersetzten „Roadbook“ hatte ich entnommen, dass irgendwann in den späten 60ern und kurz hinter Kilometer 70 in einem Park zwei VPs kurz aufeinander folgen. Zumindest hatte ich es so verstanden. Der erste dieser VPs hätte schon lange kommen müssen, aber da war nur eine Zeitmessmatte, also eine Kontrollstelle. Damit bricht auch dieser Strohhalm weg. Mühsam gehend setze ich meinen Wege fort und schere dann nach fast 70 km aus, um mich auf eine Bank fallen zu lassen.
Schwere Entscheidung
Mir scheint es, als würden mich hunderte Läufer überholen. Nur einer nimmt Notiz von mir und fragt nach meinem Befinden. Mein Fantasiefranzösisch vermittelt ihm wohl, dass ich ok bin. Mein finaler Kampf hat begonnen. Vor zwanzig Minuten hat meine Frau gefragt wie weit ich bin. Sie lag mit ihrer Schätzung nicht schlecht. Fast 70 km.
Ich bin tot! Genau das schreibe ich ihr. Sie zieht alle Register, um mich zum Weiterlaufen zu animieren. Es ist schwer, ihr meine Erschöpfung zu vermitteln, weshalb ich ihr relativ drastisch klarmache, dass ich fürchte, aus den Latschen zu kippen und im Krankenhaus zu landen, wenn ich weitermache. Oder bin ich doch wieder nur in einem temporären Tief? Ohne die Bewegung beginne ich in der Dunkelheit zu frieren.
Sie hat recht, wenn sie schreibt, dass ich meine Grenzen austesten wollte und wusste, dass es hart wird. Hart ja, aber nicht so! Die stundenlange Übelkeit und dadurch fehlende Versorgung mit Flüssigkeit und Energie fordern jetzt ihren Tribut. Es ist gerade erst sechs Wochen her, da befand ich mich auf dem Fisherman’s Trail in einer ähnlichen Situation und wäre nach 75 von 78 km ausgestiegen, wenn es denn eine Möglichkeit gegeben hätte.
Hurra! Ich lebe noch
Mein Entschluss steht fest: Ich steige aus. Das Ultralaufen ist für mich immer noch Spaß an der Grenzerfahrung und der körperlichen und geistigen Herausforderung, aber ich möchte nicht so weit gehen, dass ich mir selbst schade. Und im Augenblick geht es mir schlecht, richtig schlecht. Endlich mit meiner Stirnlampe ausgerüstet, gehe ich zum nächsten Posten und erkläre, dass ich aufgeben muss.
Ok, kein Problem, nur noch einen halben Kilometer den Hügel hinauf. Da ist der letzte VP, wo du dich in medizinische Obhut begeben kannst. Echt jetzt? Der Blick den Hügel hinauf, versetzt mich in leichte Panik. Wie soll ich denn da noch hinauf? Irgendwie geht es, eine Wahl habe ich sowieso nicht. Bevor ich es mir anders überlege, suche ich direkt das Zelt mit den Sanitätern auf und erkläre noch einmal, dass ich aussteigen müsse.
Ohne den Ballast der noch vor mir liegenden 11 km fühle ich mich gleich ein bisschen besser. Trotzdem lautet meine Antwort auf die Frage des Arztes nach dem Grund für meinen Ausstieg wahrheitsgemäß totale Erschöpfung, spezifische Schmerzen habe ich nicht. Mir werden einige Fragen gestellt, um meinen Zustand zu prüfen, es werden Blutdruck und Puls gemessen. Letzteres scheint nicht so gut zu klappen, weshalb ich meine Uhr für die Messung anbiete und dann augenzwinkernd frage, ob ich überhaupt noch lebe. Mit Witzen über eine Sprachbarriere hinweg ist das aber so eine Sache.
Führe mich nicht in Versuchung!
Scheinbar ist meine Temperatur etwas zu niedrig. Da saß ich wohl zu lange in der Kälte. Ich bekomme Tee und Suppe, mache Smalltalk und wärme mich auf. Dann darf ich gehen. Als ich meine Startnummer abgeben will, lehnt der Arzt ab. Mit der Organisation hat er nichts am Hut, er hat seine Schuldigkeit getan. Er fragt nach, ob ich immer noch wirklich aussteigen möchte, ich könne auch weitermachen.
Führe mich nicht in Versuchung! Aber nein, ich bin wirklich durch. Mein Rückweg zum Hotel liegt in meiner eigenen Verantwortung. Gut zwanzig Minuten Fahrt ist das Hotel entfernt, wenn man denn ein Auto hätte. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln dauert die Rückreise entsprechend länger.
Die Idee, dass mir die Sanitäter ein Taxi rufen, hat sich zerschlagen. Wir befinden uns mitten in einem Park, weshalb ich jetzt auf die öffentlichen Verkehrsmittel setze. In mein Französisch habe ich nicht genug Vertrauen, um mir ein Taxi zu bestellen. So oder so, muss ich aus dem Park heraus und zunächst einmal in die gleiche Richtung wie auch die Läufer und Läuferinnen, die sich auf die letzten Kilometer machen.
Ein Moment des Zweifelns
Am Ausgang des VPs kontrollieren Freiwillige, ob man mit Stirnlampe unterwegs ist, dann trennt sich mein Weg von dem der Läufer. Ein Helfer scheint besorgt, dass ich vom Weg abgekommen bin und ich erläutere ihm, dass ich ausgestiegen bin. Das sollte einigermaßen offensichtlich sein, denke ich. Wegen der Kälte habe ich eine Rettungsdecke – ebenfalls Teil der Pflichtausrüstung – um mich gelegt.
Kurz vor der Metro-Station kreuze ich noch einmal die Wettkampfstrecke. Zuschauer stehen Spalier, applaudieren, feuern an. Es scheint so, als ginge es nur noch an der Seine entlang zum Eiffelturm. Ich kenne die Strecke sogar, da ich hier vorgestern bereits gelaufen bin. Es ist der Moment, an dem ich erstmals mit meiner Entscheidung hadere. Vielleicht hätte ich doch weitermachen sollen?
Nein, ich habe genug mit mir zu tun. Es bringt nichts, sich etwas vorzumachen. Sicherlich hätte ich noch mehr als genug Zeit, bis ins Ziel zu gehen, aber das ist nicht mein Anspruch und vielleicht auch gar nicht so wichtig für mich. Ich bin mit mir im Reinen, kann stolz auf das sein, was ich geleistet habe. Die Voraussetzungen mit der Übelkeit hätte nicht schlechter sein können und angesichts meines Wunsches, schon nach 40 km aufzugeben, war das, was später kam, für mich eine Art Aha-Erlebnis. Die langen, langen Passagen, dich ab Kilometer 50 laufen konnte, haben mich mit dem Lauf versöhnt.
Raus mit Applaus
Wie um das zu bestätigen, bekomme ich kurz vor der Haltestelle Zuspruch von Passanten, obwohl ich offenkundig aufgegeben habe. „Bravo!“, höre ich die Passanten mir zurufen. Um Missverständnissen vorzubeugen, entferne ich meine Startnummer. Ich möchte keinen Verdacht erwecken. Von hier aus könnte ich bequem per Straßenbahn in Richtung Ziel fahren. Gab es alles schon!
Am Ende muss ich noch ein Leihfahrrad nehmen, um zu meinem Hotel zu kommen. So paradox es klingt, scheint mir das einfacher, als von hier einen Bus, ein Taxi oder was auch immer zu nehmen. Ich bin mental so erschöpft, dass ich den Weg des geringsten Aufwands wähle. Doch greife ich bei der Wahl des Fahrrads so richtig tief ins Klo. Bereits nach wenigen Metern merke ich, dass die Gangschaltung spinnt, trete ich hart in die Pedale dreht das Kettenblatt durch. Egal, ich bleibe bei dem Drahtesel. Wird schon gehen.
Mit wehendem Cape fahre ich durchs dunkle Paris. Mein Aufzug dürfte Aufmerksamkeit erzeugen. Eins ist klar: Mit der goldenen Wärmedecke werde ich jedenfalls nicht überfahren. Wirkt aber sicherlich seltsam. Als ich an einen steilen Anstieg komme, jaule ich innerlich auf, mache auf halber Strecke Pause, weil ich verschnaufen muss. Kalt ist mir momentan jedenfalls nicht mehr. Mit der Mistkrücke von Fahrrad habe ich mir heute ein letztes Mal so richtig schön selbst in die Fresse gehauen.
Schade um das schöne Bier
Es ist schon nach 22 Uhr, als ich endlich das Hotel erreiche. Ich habe mich darauf verlassen, hier noch etwas zu trinken zu bekommen, vielleicht auch eine Pizza. An der Rezeption ist kein Mensch. Leicht panisch klingle ich und tatsächlich kommt Augenblick später der Rezeptionist. Ja klar, Getränke kann ich noch bekommen, nur mit der Pizza sieht es schlecht aus, die Küche hat bereits geschlossen. Ich nehme eine Sprite, eine Fanta und ein Bier. Macht 15 €. Das ist es mir wert.
Die Idee, Pizza zu bestellen, verwerfe ich nach kurzer Recherche und fahre aufs Zimmer. Mir ist eh nicht nach essen. Gut, dass ich die Treppen nicht hochgehen muss. Nachdem ich die beiden Softdrinks ausgetrunken habe, gehe ich unter die Dusche. Das kostet Überwindung. Noch immer ist mir arschkalt, meine Nase ist bläulich verfärbt, Finger und Zehen taub. Meine Zehen sind obendrein schwarz, Dreck zeugt von den 71 km, die ich hinter mir habe.
Sobald ich im Bett liege, bewahrheitet sich, was der Arzt im Zelt vorhin zu mir gesagt hat. Er hatte mir eindringlich von meinem Wunsch abgeraten, mich für eine Weile auf eine Liege legen zu dürfen. Nach der Anstrengung, die ich meinem Körper abverlangt hatte, würde er instant runterfahren, sobald ich mich hinlegte. Ich würde nicht mehr hochkommen. Exakt einen Schluck Bier schaffe ich, ehe mir die Augen zufallen. Mein Schlaf ist tiefer als in den Nächten zuvor, aber um 4 Uhr bin ich wieder wach.
Es überwiegt der Stolz
Auf meinem Handy gibt es eine ungelesene Nachricht von 1:09 Uhr. Sie stammt vom Veranstalter. Die Übersetzung ergibt, dass ich mein DNF bestätigen muss. Oui, schreibe ich zurück und bestätige offiziell mein erstes „Did not finish“ seit 2008.
Fühle ich mich deswegen schlecht? Es geht. Die Schmerzen und die Erschöpfung beginnen bereits zu verblassen, die Übelkeit verschwunden. Da könnte ich leicht ins Grübeln kommen. Hey, die 10 km hättest du locker geschafft. Fünf Stunden hätte ich mir dafür Zeit lassen können! Trotzdem bin ich weiterhin überzeugt, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.
Es war das Abenteuer, das ich gesucht habe und wird mir als solches in guter Erinnerung bleiben. Auch weil ich mit dem Lauf meinen Frieden geschlossen habe, stolz bin auf meine Leistung. Das ist für mich wichtiger als ein erzwungenes Finish. Natürlich empfinde ich etwas Wehmut, nicht auf dem beleuchteten Eiffelturm angekommen zu sein, das kann ich nicht verhehlen. Und ich hätte auch gerne die Medaille. Einfach als Symbol für das, was ich fühle und als Erinnerung an einen unvergesslichen Lauf. Aber sie steht mir nicht zu, 71 km zum Trotz. Manchmal ist sehr weit eben nicht weit genug.
Der Lauf im Überblick
Distanz | 82 km |
Zeit | DNF |
Strecke | Auf 82 km arbeitet man sich bei diesem Lauf überwiegend auf Trails vom Freizeitpark in Saint-Quentin-en-Yvelines nach Paris. Der Lauf ist erstklassig organisiert und Teil eines Laufspektakels, das voll auf Nachhaltigkeit setzt. Das zeigt sich auch an den VPs, die auf Produkte aus der Region setzen und auf Becher verzichten. Bis auf wenige Abschnitte verläuft die Route durch Wälder, nur selten streift man Ortschaften. Die Franzosen an der Strecke sind sehr wohlwollend und doch durchaus zahlreich. Kleines Manko: Englisch ist nicht gerade die beliebteste Sprache. |
Besonderheiten | Höhepunkt ist ganz bestimmt der Zieleinlauf auf der ersten Etage des Eiffelturms, der allerdings den Teilnehmern des 82-km-Laufs vorbehalten ist. Teilnehmer und Teilnehmerinnen kürzerer Distanzen müssen mit einem Zieleinlauf zu Füßen des Pariser Wahrzeichens vorlieb nehmen. |