Bin ich erleichtert? Ja, irgendwie schon. Gerade bin ich auf dem Weg zum Lost & Found-Schalter. Mein Koffer ist anscheinend auf dem Flug von São Miguel nach Pico verloren gegangen. Geblieben ist mir ein erheblich stärker ramponierter Koffer des gleichen Modells. Es könnte spannend sein, darin zu stöbern. Von den Unannehmlichkeiten abgesehen, die ein verlorener Koffer mit sich bringt, werde ich den Lauf quer über die Insel Pico, die sogenannte Pico-Island-Traverse – nicht antreten können.
Bedingungen zum Fürchten
Die Pico-Island-Traverse war der Hauptgrund für meinen Abstecher von der Hauptinsel der Azoren hierher nach Pico, der zweitgrößten Insel des Archipels. Mit dem Verlust des Koffers verliere ich auch die Chance als Erster eine Zeit für die Überquerung der Insel anzumelden. Das müsste mich traurig stimmen. Doch ich fühle mich eher befreit. Seit meinen Läufen auf São Miguel bin ich skeptisch. Äußerst skeptisch sogar.
Die Luftfeuchtigkeit und das ständige Auf-und-Ab haben mich das Fürchten gelehrt. Gleich am ersten Tag auf der Insel war ich bei dem Versuch gescheitert, eine neue „Fastest Known Time“ auf dem Rundweg um die beiden Kraterseen Lagoa Azul und Lagoa Verde aufzustellen. Die Luftfeuchtigkeit und die teilweise brutalen Anstiege hatte ich unterschätzt.
Mehr noch war es aber der lockere Lauf am Folgetag, der meine Zweifel so groß werden ließ, dass ich die Idee der Pico-Überquerung fast schon abgehakt hatte . Die 14 km in flachem Terrain beendete ich vollkommen durchgeschwitzt und völlig im Arsch, geradezu desillusioniert. Kaum noch konnte ich mir ausmalen, 53 km unter diesen klimatischen Bedingungen zu laufen und dabei über 1.000 Höhenmeter zu überwinden.
Weil Flüge und Hotel allerdings arrangiert waren, war ich trotzdem auf die Ilha da Pico geflogen. Nur eben ohne Koffer, wie es schien. Damit wurde mir die Entscheidung abgenommen. Zwei Tage relaxen, vielleicht ein kurzer Trailrun, aber kein Versuch, als erster eine FKT für die Pico-Island-Traverse, die Überquerung der gesamten Insel aufzustellen.
Ein Wink des Himmels
Oder doch nicht? Die Mitarbeiterin der Fluggesellschaft ist schnell mit einer Vermutung bei der Hand. Ob mein Koffer Ähnlichkeiten mit dem hat, den ich statt meinem in der Hand habe? Und ob. Da wird also jemand die Koffer vertauscht haben. Ein Telefonat später hat sie die Person gefunden. Sie ist noch auf dem Parkplatz und hat versehentlich meinen Koffer vom Band genommen. Wieviel Glück kann man haben?
Jetzt kann ich mich nicht mehr guten Gewissens vor dem drücken, was ich mir ursprünglich vorgenommen hatte. Ich nehme es als einen Wink des Schicksals. Ich gebe dir deinen Koffer, dafür bewegst du deinen Arsch über die Insel. Abgemacht, der Deal steht.
Dafür muss ich aber erst die Taxifahrt überleben. Der Fahrer hat es eilig und offenbar Todessehnsucht. In halsbrecherischer Fahrt erreiche ich das Hotel in der Nähe des Startpunktes am Leuchtturm Ponta da Ilha. Auch das war eine glückliche Fügung. Am abgelegenen Ostende der Insel sind Unterkünfte selten. Eine so schöne wie O Zimbreiro ein echter Glücksfall.
Improvisierte Pasta-Party
Das Problem ist, dass ich zu spät dran bin, um in der Unterkunft noch am Guest Table teilzunehmen und Restaurants hier ebenso rar sind wie Unterkünfte. In 2,5 km Entfernung ist ein Restaurant, eine Bar ist ungefähr genauso weit entfernt. Das ist mir heute alles zu weit. Ich habe einen langen Tag hinter mir, bin 11 km auf einem Trail unterwegs gewesen und von Wasserfällen gesprungen, musste meinen Mietwagen abgeben, einchecken, fliegen, Koffer wiederfinden. Ich will eigentlich nur noch ins Bett – und richtig essen. Das war schon in den letzten Tagen problematisch, weil ich ständig unterwegs war.
In meinem Koffer steckt eine Tüte mit Instant-Nudeln, die ich mithilfe des Wasserkochers wortwörtlich in eine halbgare Mahlzeit verwandele. Es ist die Notfall-Option. Ich feiere meine kleine private Pastaparty auf der Terrasse und ergänze sie mit einigen Dingen, die schon für mein Frühstück bereitstehen. Dann packe ich meine Siebensachen für den Lauf: Gels, T-Shirt und Hose zum Wechseln am Zielort, Powerbank, Bargeld und vor allem Getränke.
Das Problem mit dem Wasser
Am meisten Angst habe ich davor, dass mir das Wasser knapp wird. Die zurückliegenden Läufe haben mir gezeigt, wie viel Flüssigkeit ich in diesem Klima verliere. Und Anne-Lise, die Besitzerin der Unterkunft hat mich mit bangem Blick ermahnt, auf ausreichend Wasser zu achten. Sie weiß, was ich vorhabe und ist einigermaßen besorgt.
Insgeheim hoffe ich darauf, meine Vorräte an den Seen im Hochland aufzufüllen. Aber da sie mir sogar davon abgeraten hat, das Wasser aus den Leitungen für meine Trinkblase zu verwenden, sollte ich mir das als letzte Möglichkeit offen lassen.
Vielleicht gibt es auch öffentliche Spender, wie ich sie auf der Fahrt hierher gesehen habe. Unwahrscheinlich, da das Hochland unbewohnt ist, aber nicht gänzlich ausgeschlossen. Ganz sicher ist, dass ich die Hosen voll habe. Gestrichen voll. So viel Angst hatte ich bisher noch nie vor einem Lauf, das kann ich unumwunden zugeben. Selbst nicht vor meinen längsten Läufen. Ich habe schon ähnliche Dinge gemacht, aber das hilft mir momentan nicht, mein Selbstvertrauen aufzubauen.
Start bei Sonnenaufgang
Um 5:30 Uhr klingelt der Wecker und nein, ich drücke ihn nicht ab, um noch im Bett liegen zu bleiben oder gar den Tag zu verschlafen. Zumindest meine Motivation stimmt. Geschlafen habe ich schlecht, unruhig. Ich esse mein Frühstück und mache mich auf den Weg zum Leuchtturm. Zweieinhalb Kilometer zum Warmwerden. Wortwörtlich. Schweiß bedeckt innerhalb kürzester Zeit meinen Körper, dabei ist die Sonne nicht einmal aufgegangen und ich gehe abwärts!
Die Sonne ist soeben aufgegangen, als ich am Leuchtturm ankomme. Das Timing ist fast perfekt. Dafür stellt sich mir das erste Hindernis in den Weg, bevor es überhaupt losgeht. Vor dem Weg, den ich nehmen soll, versperrt ein Tor den Zugang. Ich nehme die Scharte in der Mauer und will es ebensowenig als schlechtes Omen begreifen wie die kleine Eule, die ich vorhin aufgeschreckt habe. Hoffentlich bewacht kein Hund den Weg, den ich hier verbotenerweise nehme.
Nur ganz kurz geht es nahezu eben über den unbefestigten Weg, dann steigt das Gelände an. Das ist nicht sonderlich überraschend. Bis ich im Hochland auf über 800 m angekommen bin, wird das überwiegend so bleiben. Mehr oder weniger ausnahmslos steigt das Höhenprofil auf diesem Stück der Route an. Aber nicht so brutal, wie ich es beim Lauf bei Sete Citades oder zum Lagoa do Fogo erlebt habe. Es geht oft sehr moderat hinauf, sodass ich immer wieder auch einige Passagen laufen kann, übertreibe es aber nicht. Nur allzu leicht lässt man sich dazu hinreißen, die frischen Beine auszubeuten.
Wie schnell wandert man eigentlich 50 km?
In der aufgehenden Sonne komme ich an einem überwucherten Fußballplatz vorbei. Ein Anblick mit besonderem Charme. Trotz meines gemächlichen Tempos, brauche zu lange, um rechtzeitig mein iPhone aus der Tasche zu friemeln. Bis ich bereit für ein Foto bin, liegt der marode Platz schon hinter mir.
Schon hinter der nächsten Kurve, ist mit dem Laufen Schluss, weil es mir zu steil wird. Es stört mich nicht. Ich habe mir vorgenommen, mich nicht zu stressen. Ankommen ist das oberste Ziel, kein Druck, kein Zeitziel. Abgesehen vom letzten Bus, der aus der Inselhauptstadt Madalena zurück nach Piedade fährt. Dafür habe ich elf Stunden.
Das müsste unter allen Umständen machbar sein. Oder nicht? Es ist ja nicht so, dass ich unvorbereitet auf die Strecke gegangen wäre. Auch für den schlimmsten Fall hatte ich vorbereitet sein wollen und recherchiert, wie lange ich wohl bräuchte, wenn ich einen Großteil der Strecke würde gehen müssen. Eine beängstigende Antwort habe ich bei bergfreunde.de gefunden. Für 50 km warf der Rechner 15,5 Std. reine Gehzeit aus, wenn man die Norm des Deutschen Alpenvereins zugrunde legte. Uff!
Bin ich Profi oder Bergziege?
Ich musste den Ausgangsparameter im Rechner schon auf „Profi“ ändern, um auf eine Zeit von unter elf Stunden zu kommen. Mein Plan sieht natürlich nicht vor, die Gesamtstrecke zu gehen. Selbst wenn ich den gesamten Anstieg bis ins Terra Alta, dem Hochplateau würde gehen müssen. Wenigstens im Hochland und auf der langen Abwärtspassage nach Madalena plane ich zu laufen.
In meinem pessimistischsten Ansatz habe ich drei Stunden veranschlagt für den Weg bis hinauf auf das Hochplateau. Lege ich die bisherigen Kilometerzeiten zugrunde, bin ich auf dem besten Wege, das bei weitem zu unterbieten. Trotz der Steigungen brauche ich für keinen Kilometer länger als 10 Minuten. Einen schaffe ich sogar unter sechs Minuten. Ich bin eine Bergziege!
Nach einer Stunde etwa stehe ich komplett in den Wolken. Es regnet leicht, ohne dass es kühl wäre. Dadurch kann ich wenig sehen, aber ich bin vor der Sonne geschützt. Nach einem kurzen Stück auf einer Schotterstraße befinde ich mich aktuell wieder auf einer geteerten Fahrbahn. Es geht erstmals so richtig brutal hinauf. Dazu peitscht mir der Wind um die Ohren und schleudert mir Regen ins Gesicht. Das hatte ich anders ausgemalt.
Unerwartete Hindernisse
Dann plötzlich kommt mir eine Herde Rinder entgegen. Bis hier bin ich schon an ungezählten Rindern vorgekommen, die alle ausnahmslos artig auf ihrer Weide standen. Diese Herde hier ist auf Wanderung. Ich versuche sie mit Gesten und Rufen vom Weg zu vertreiben, aber sie traben nur sehr langsam vor mir her. Immer wieder schauen mich Kühe stoisch an, einige haben Kälber. Verteidigen Kühe eigentlich ihren Nachwuchs? Ausprobieren möchte ich es nicht.
Dann sehe ich einen Bullen zwischen all den Kühen und Kälbern. Wenn den sein Beschützerinstink befällt, bin ich geliefert. Ich trotte in gebührendem Abstand hinter den Tieren. Ein Jeep kommt und fährt einfach durch die Herde. Mir gelingt es nicht, durch die Lücke, die er schafft, zu laufen. Dann kommt noch ein Fahrzeug. Es fährt langsamer und ich laufe an seiner linken Seite. Die Herde hat er nach rechts gedrängt. Das geht gut, bis wir an ein Tor kommen. Dort stauen sich die restlichen Rinder, aber der Fahrer bedeutet mir zu warten. Geübt scheucht er die Viecher beiseite und ich habe wieder freie Bahn.
Unwillkürlich hatte ich für eine kurze Weile meine Uhr gestoppt. Bestimmte Reflexe lassen sich nur schwer unterdrücken. Oben bin ich noch lange nicht. Immer noch steigt die Straße vor mir an. Unverändert bleibt auch das Wetter. Ich nehme es wie es ist und finde mich mit den Bedingungen ab. Es ist für mich besser, als würde die Sonne ballern. Nur in punkto Erlebnis muss ich Abstriche machen. Die Sichtweite beträgt 50 m, entsprechend wenig sehe ich von der Einmaligkeit des streng geschützten Gebietes. Hier oben ist der ursprüngliche Bewuchs aus Laurisilva und Lorbeerheiden erhalten geblieben, den man auf den Inseln Makaronesiens – Azoren, Madeira, Kapverden, Kanaren, Sebaldinen – vorfand.
Nur wenige Minuten nachdem ich die Herde Rinder hinter mir gelassen habe, begegne ich erneute auf der Straße wandernden Rindern. Ich imitiere den Einheimischen und verscheuche die Tiere gestenreich und lautstark. Geht doch, wieder etwas gelernt. Dann taucht plötzlich ein Pferd aus dem Nebel auf. Einige Sekundenbruchteile braucht mein Verstand, um das Tier einzuordnen, dass sich da zuerst nur als grusliger Schemen im Nebel abzeichnet und nur nach und nach sichtbar wird. Eine geisterhafte Erscheinung. Möglichst unaufgeregt passiere ich das große Tier und beobachte es nur aus dem Augenwinkel.
Im Hochland beginnt der Lauf
Nach etwas mehr als 17 Kilometern bin ich auf dem höchsten Punkt der gesamten Strecke angelangt – 939 m. Höher muss ich nicht und das ist auch gut so. Mit dem Montanha do Pico werde ich später noch am mit 2352 m höchsten Berg Portugals vorbeikommen. Da wäre also noch Luft nach oben. Gut, dass die Route nur an der Flanke des Vulkans entlangführt!
Links muss sich ein See befinden. Woher ich das weiß? Ein Wegweiser steht am Straßenrand. Wie zur Mahnung liegt darauf ein Rinderschädel. Reisender, du bist des Todes! Im Nebel ein schauriger Anblick. Er verleiht allen Dinge eine geisterhafte Kontur. Ich fühle mich trotzdem wohl, irgendwie geborgen und reduziert auf mein Vorhaben.
Oben angekommen kann ich endlich zum Laufen übergehen, muss aber erst einen Rhythmus finden. Längere Strecken bin ich heute noch gar nicht gelaufen. Bewusst setze ich mir überschaubare Ziele. Zum Aufwärmen einen Kilometer am Stück, das weite ich aus auf drei Kilometer und weil es so gut geht, sind es nach einer knappen halben Stunde fünf. Es läuft! Ich sehe mich schon ganz easy in Madalena ankommen.
Das Achada-Plateau verschwindet im Nebel
Geologisch gesehen befinde ich mich praktisch seit dem Start an der Ponta da Ilha auf dem Achada-Plateau, aber erst hier oben fühlt es sich auch so an. Das Plateau erstreckt sich ausgehend vom Ostende der Insel etwa 30 km nach Westen:
„In der östlichen Hälfte der Insel dominiert das Achada-Plateau mit einem vulkanischen Grat von etwa 30 km Länge zwischen dem Capitão-See und der Ponta da Ilha. Seine etwa 200 Vulkankegel und die umliegenden Gebiete beherbergen Sümpfe, Teiche oder Seen. […] Dieses Gebiet ist einer der wichtigsten Orte auf den Azoren in Bezug auf endemische Vegetation […].“
Nur sehe ich davon weiterhin bemerkenswert wenig, links und rechts der Straße weiterhin nur Mauern aus Vulkangestein, Zäune und dahinter graue Wolken. In meiner Vorstellung sah das anders aus, sonniger. Doch weil ich generell Probleme mit der Flüssigkeitsaufnahme habe, ist mir der Schutz der Wolkendecke vor der Sonne ganz recht. Sie kühlt und vermindert den Flüssigkeitsverlust. Das Erlebnis ist dadurch anders als ich es mir ausgemalt habe, aber die Bedingungen geben dem Lauf einen sehr eigenen Charakter, eine besondere Note.
Die Welt ist klein – Pico ein Dorf
Vereinzelt kommen mir jetzt Fahrzeuge entgegen, die nicht geländegängig sind. Allem Anschein nach Touristen, die per PKW das Achada-Plateau erschließen. Zumindest identifizieren die grünen Aufkleber die Autos als Leihwagen von Ilha Verde – grüne Insel – aus. In Deutschland wäre das inzwischen eine zumindest zweifelhafte Benennung für einen Autovermieter, der nur Verbrenner im Programm hat.
Es sind nicht nur Leihwagen unterwegs. Irgendwann kommt mir exakt der uralte Bus entgegen, mit dem ich gestern vom Flughafen zum Hotel gefahren bin. Ich grüße den Fahrer, aber nichts in seinem Gesicht deutet Wiedererkennen an, soweit ich das auf die Schnelle sehen kann. Trotzdem muss ich grinsen.
Das Intermezzo zeigt, die Insel ist klein. Knapp 14.000 Einwohner sind es beim letzten Zensus gewesen, halb so viele wie in meiner Heimatstadt. Man kann sich vorstellen, dass nicht nur die Zahl der Taxis überschaubar ist. Noch immer arbeiten viele Einheimische im primären Sektor, fangen Fisch oder betreiben Landwirtschaft. Ein anderes Standbein der Inselwirtschaft ist Tourismus. Es sind wohl vor allem Naturliebhaber, Ruhe Suchende und Wanderer, die es hierher verschlägt.
Zu welcher Sorte zähle ich? Zu allen. Ich genieße die Zeit, die ich ohne meine Großfamilie habe, liebe es draußen sportlich aktiv zu sein. Ich laufe aber ganz entschieden lieber, als das ich wandere. Dafür reicht meine Geduld nicht.
Die Einsamkeit des Ultraläufers
Aktuell wandere ich zwar nicht mehr, wenngleich ich mich seit bestimmt einer Stunde auf einem ausgewiesenen Wanderweg durchs Hochland befinde. Das bemerke ich zweifelsfrei an den Wegweisern am Straßenrand. Unter den rot-gelben Gleichheitszeichen, dem universellen Zeichen für einen Wanderweg hier auf den Azoren, stehen zahlen, die stetig abnehmen. Mir dienen sie als Motivation, ich arbeite mich von 40 ausgehend rückwärts. Ich reime mir zusammen: Sobald die Nummerierung endet, habe ich voraussichtlich eben jenen Parkplatz am Anfang des Weges erreicht, den ich auf dem Track in der Vorbereitung entdeckt habe.
Bisher sind mir nur zwei Wanderinnen begegnet auf dem Weg durchs Hochland. Das Wetter lädt allerdings auch nicht zu einer ausgedehnten Wanderung ein, es regnet weiterhin unverändert aus den grauen Wolken. Von den Vulkanseen sehe ich nur einen, den Lagoa do Caiado. Es ist entsprechend einsam, abgesehen von den gelegentlichen Pick-up-Trucks und Leihwagen.
Hinter dem Parkplatz am Anfang des Weges vermute ich in belebtere Gegenden kommen. Aber was heißt belebter? Genau hier ist doch Leben: Vor mir ist ein Kipplaster damit beschäftigt, kleinstes Lavagestein auf die Straße zu kippen. Männer mit Besen fegen den Split in Schlaglöcher und verfestigen ihn. Der LKW bremst mich aus, bis ich passieren kann, aber die Arbeiter sind ebenso freundlich wie die Farmer vorhin. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie mir als Läufer hier oben gewogen sind.
Die ewige Sorge um den Magen
Vielleicht ist das Gefühl auch nur auf meine gute allgemeine Stimmung zurückzuführen. Ich fühle mich weit besser als gedacht und komme dem Ziel immer näher. Natürlich weiß ich, dass es gerade nach hinten raus immer Probleme geben kann, aber ich habe noch immer fast 1.000 Höhenmeter abwärts in petto. Vom Ende des letzten Abstiegs muss es bis Madalena min. 12 km hinab gehen, dazu auf halbwegs guten Straßen, nehme ich an. Da ist also noch was drin.
Wenn nur der Magen mitspielt. Obwohl ich bisher viel gegangen bin und die Belastung für den Verdauungstrakt dadurch nicht so extrem war, habe ich schon beim zweiten Gel herzhaft würgen müssen. Na toll, ich dachte mit den Gels von HoneyPower endlich was gefunden zu haben. Schlimmer noch: Das Trinken fällt mir auch immer schwerer. Die 500 ml fassende Flasche in meiner Weste ist immerhin leer. Aus der Trinkblase auf dem Rücken nehme ich regelmäßig kleine Schlucke, ausreichend ist das nicht. Das Problem, Wasser aufzufüllen habe ich gegen das Problem getauscht, überhaupt genügen zu trinken. Wie so oft hat sich mein Magen als meine größten Sorge entpuppt.
Nachdem ich fast 10 km durchgehend laufen konnte, muss ich erstmals wieder zum Gehen wechseln. Einige Wellen im Gelände habe ich laufend überwunden, dieser Anstieg ist mir zu steil. Vielleicht die letzten 200 Höhenmeter der Strecke. Jedenfalls bin bin am Anfang des Wanderweges angelangt und er mündet auf eine größere Straße. Ein Wegweiser weist die Restdistanz nach Madalena mit 23 km aus. Das stimmt exakt mit meiner Uhr überein, 30 km von 53 km der Pico-Island-Traverse sind geschafft.
Die können kaum alle bergab gehen, oder? Ich weiß, dass es irgendwann vor dem Ende des Plateaus noch einmal ca. 200 Höhenmeter hinauf geht. Naiv, wie ich bin, rede ich mir ein, dass das hier die letzten davon sind.
Die Stimmung ist gut – zu gut
Was sich im nächsten Moment vor mir ausbreitet ist allerdings wenig dazu angetan, mich zu einem vorzeitigen Freudentanz zu animieren. Letzte Höhenmeter? Bis zum Horizont erstreckt sich eine endlos erscheinende Straße. Nicht bergab, nicht einmal flach, sondern kontinuierlich ansteigend. Jetzt weiß ich, dass ich mir nur etwas vorgemacht habe. Die letzten 200 Höhenmeter in der Rechnung liegen ganz genau vor mir. Ein prüfender Blick auf das Höhenprofil meiner Laufuhr bestätigt das. Ich sehe ganz am Anfang des letzten, offenbar sehr langen Anstiegs.
Was soll es? Wie schon auf den ersten 15 km muss ich mich einfach wieder in Geduld üben und fürs Laufen ungeeignete Passagen gehen. Es fällt mir aber schwerer als zu Beginn. Der große Pessimismus ist verflogen, ich bin inzwischen voller Zuversicht, in Madalena anzukommen. Das Ankommen steht für mich überhaupt nicht mehr zur Debatte, nicht einmal, ob ich pünktlich zum letzten Bus da sein werde. Es wird Zeit bleiben, sich die Stadt anzusehen. Und mein euphorischer Verstand geht sogar noch einen Schritt weiter: Ist es realistisch unter sechs Stunden zu bleiben oder eher unter sieben?
Mir geht es ganz eindeutig zu gut! Zunächst muss ich mal die letzten Höhenmeter hinter mich bringen. Das bringt mich auf andere Gedanken. Größere Stücke am Stück zu laufen, ist angesichts der Steigung schwierig. Deswegen überlege ich mir einen Modus, mit dem ich gut klarkomme. Jeden Kilometer wenigstens eine Passage von einigen Hundert Metern laufen, bis die Beine zu sehr brennen, dann gehen. So nimmt die Distanz schneller ab und die Kilometerzeiten laufen nicht allzu sehr aus dem Ruder.
Alles muss raus!
Doch einfach ist es nicht. Die Steigung ist nur die eine Sache. Die Wolken haben sich verzogen und die Sonne heizt mir gnadenlos ein. Rechts kann ich dafür die nördlich von Pico gelegene Nachbarinsel Sao Jorge sehen. Wie weit sich der Anstieg tatsächlich zieht – ungefähr sieben Kilometer – begreife ich nur scheibchenweise. Oder hügelweise. Nach jeder erreichten Kuppe, hoffe ich vergeblich auf den lang ersehnten Abstieg. Stattdessen baut sich vor mir der nächste Anstieg auf. Endlos.
Nebenei kämpfe ich mit meinem Magen. Jeder Schluck aus dem Schlauch ist schwierig und ich spüle vorsichtig meinen Mund aus, ehe ich schlucke. Das geht so lange gut, bis mir versehentlich ein größerer Schwall Flüssigkeit in den Mund schießt. Oder kommt er aus mir heraus? Ich spucke die Flüssigkeit in einem Reflex auf die Straße. Das hat das fragile Gleichgewicht zwischen Übelkeit und „Es ist ok“ zerstört. Der nächste Schwall kommt zweifelsfrei aus mir heraus.
Ich erbreche mich am Straßenrand, dann noch einmal. Mehr als etwas Flüssigkeit kommt nicht. Übelkeit habe ich schon häufig durchlitten, tatsächlich erbrechen musste ich mich bisher nie. Premiere heute. Anstelle von Besorgnis empfinde ich Belustigung. Mir geht es körperlich und mental gut. Abgesehen von der Übelkeit und die ist durch das Erbrechen zumindest für den Moment passé.
Wie kann man sich angesichts dessen, dass man gerade an den Straßenrand gebrochen hat, belustigt sein? Vielleicht, weil ich meinen Körper gut genug kenne, um zu wissen: Halb so wild. Ich bin körperlich immer noch ziemlich drauf, es war nur eine Unverträglichkeitsreaktion auf Geschmack oder Konsistenz eines Gels oder des Getränks. Vor meiner Zeit als Ultraläufer hätte ich mich vermutlich trotzdem für verrückt erklärt.
Ein Abzweig ins Nichts
37 km habe ich hinter mir, nur mehr 16 sind es noch bis Madalena. Links erkenne ich endlich den Montanha do Pico, den mit über 2.000 Metern höchsten Berg Portugals. Bis dato war er von Wolken eingehüllt und zeigt sich erst in genau diesem Moment. Dass es mir tatsächlich gut geht, zeigt sich auch daran: Von rechts höre ich einen Mann aus einer Gruppe Feldarbeiter rufen. Man kennt das als Läufer. Es sind halb spöttische Anfeuerungsrufe. Nie weiß ich, wie ernst es die Leute meinen. Mit erhobenem Arm grüße ich zurück, brülle ein „Olá!“ in Richtung der Gruppe. Viel mehr gibt mein Portugiesisch nicht her. Ich will glauben, dass es ernstgemeinte Aufmunterung war.
Die nächsten Kilometer bekomme ich in einem Sechserschnitt hin, auch weil ich endlich die letzte Kuppe überwunden habe und mit dem Gefälle rolle. Ich werde sogar schneller, verfalle in ein Tempo, das sich gut anfühlt. Doch bevor ich in einen angenehmen Flow komme, meldet sich unerwartet die Uhr – Kursabweichung! Wie das? Ich hatte nicht im Mindestens damit gerechnet, dass die Strecke anders verlaufen könnte, als auf der Straße, der ich seit Kilometer 10 km folge. Rechts soll ich abbiegen. Aber wohin? Da ist doch gar kein Weg! Oder bin ich schon so im Tunnel?
Ich gehe zurück, um den Weg zu suchen. Nichts. Sicherheitshalber gehe ich noch etwas weiter zurück. Nein, das ist kein Weg erkennbar, der verdammte Track weist ins Nirgendwo. Oder doch nicht? Mit viel Fantasie kann ich etwas erahnen. Da, wo ein Weg sein sollte, wuchern Brombeersträucher zwischen zwei der typischen Mauern aus Lavagestein. Zusätzlich blockiert Stacheldraht den Zugang. Wäre das nicht ein FKT-Versuch, ich würde „safe“ einen anderen Weg einschlagen. Aber was soll ich machen? Ich bin nicht so weit gekommen, um jetzt meinen Versuch abzubrechen oder zu gefährden. Wie das Reglement für diesen Fall aussieht, weiß ich nicht.
Sicher ist sicher. Ich steige auf eine der Mauern und spüre sofort, wie ein Stein ins Rutschen gerät. Eine Trockenmauer halt. Mit einem Sprung vermeide ich eine Bauchlandung. Hinter mir rumpelt der Stein ins Gesträuch.
Ein kurzes Tief
Der Pfad ist so überwuchert, dass auf eine Weide ausweiche und mich parallel zur Route fortbewege. Die Wiese ist mit unsichtbaren Löchern übersät, unter dem Bewuchs liegen Lavabrocken, ähnlich denen, aus denen die Mauern gefertigt sind. Ständig trete ich ins Leere, knicke weg und stolpere. Das frustriert mich. Obendrein ist es verdammt anstrengend. Weil ich so gar nicht vorwärts kommt, habe ich ein richtiges Tief. Was ist, wenn sich das jetzt so bis Madalena fortsetzt? Ich kann die Stadt in der Ferne sehen, aber das sind noch mehr als zehn Kilometer. Dafür brauch ich auf diese Weise einen halben Tag. Scheiße Mann!
Mir fällt ein Podcast ein, den ich unlängst gehört habe. Ein Schiffbrüchiger musste sich am Ende seiner Odyssee über ein Feld nicht enden wollender Lavasteine schleppen, bis er Hilfe fand. Barfuß zerschnitt ihm das Gestein bei jedem Schritt die Füße. Sich mit dem Mann zu vergleichen, verbietet sich. Ich bin weder gerade dem Ertrinken entronnen, die Wiese zerschneidet auch nicht meine Fußsohlen, verdreckt allenfalls meine Laufschuhe. Und in akuter Lebensgefahr schwebe ich schon gar nicht.
Einfach gesagt bin ich einfach nur erschöpft und die Aussicht auf einen zehn Kilometer langen Crosslauf hat mich entnervt. Für einen Moment pflanze ich meinen Hintern auf eine Mauer, ich bocke. Und mir ist ganz plötzlich über die Maßen übel.
Sobald die Übelkeit nachlässt, reiße ich mich am Riemen. Sitzenbleiben wird mich dem Ziel nicht näher bringen. Und tatsächlich findet der Crosslauf nach nicht ganz zwei Kilometern – es sind die Kilometer 43 und 44 – ein Ende. Nochmals muss ich einen Stacheldraht überwinden, dann bin ich wieder auf einer unbefestigten Straße. Rote Erde zwischen Mauern aus Lavabrocken.
Welchen Unterschied ein einziger Kilometer machen kann
Wieder laufbaren Boden unter den Füßen zu haben, gibt mir emotional einen kleinen Schub. Wenigstens muss ich also nicht die gesamte restliche Strecke über Felder stolpern. Mehr als zehn Kilometer sind auch so schon genug. Obendrein bin ich einigermaßen nervös. Der Stacheldraht war dort sicherlich nicht umsonst gespannt und seine Aussage unmissverständlich: Zutritt verboten. Es ist nur nicht eindeutig, ob ich mich auf der verbotenen oder legalen Seite befinde. Im schlechtesten Fall bin ich auf Privatgelände und ich bekomme gleich einen Anschiss. Oder ich mache Begegnung mit einem Wachhund. Vorsichtig laufe ich weiter und je mehr Zeit ohne Anschiss und Wachhund vergeht, desto entspannter werde ich. Für den Notfall habe ich immer noch eine kleine Dose Reizgas bei mir. Ein Überbleibsel vom Lauf auf dem Fishermen’s Trail.
Es geht überwiegend bergab, schmerzt aber trotzdem. Kleinste Steigungen sind höllisch. Meine Beine sind scheinbar doch ziemlich müde inzwischen. Die mehr als zehn Kilometer auf der Uhr türmen sich vor mir auf wie ein unbezwingbarer Berg. Dann plötzlich scheint die Restdistanz einen Sprung zu machen, bin ich bei neun Kilometern. Habe ich die Zehnermarke verpennt? Wahrscheinlich bin ich wegen der Eskapaden der letzten Minuten einfach nur durcheinander. Jedenfalls passt immer noch alles zusammen. Restdistanz und gelaufene Kilometer und auch im Nachhinein ist alles korrekt.
„Nur“ noch neun Kilometer vor der Brust zu haben, gibt mir neuen Mut. Gerade noch unüberwindbar ist der Berg plötzlich nicht mehr so furchteinflößend, machbar, zum Hügel geschrumpft. Rational ist das nicht zu erklären, liegen zwischen den beiden Zuständen objektiv nur 1.000 m.
Trotz der neuen Energie streue ich regelmäßig kurze Erholungsphasen ein, in denen ich gehe. Ich bleibe mir treu, will mich nicht zu sehr ans Limit bewegen. Eine der Pausen nutze ich, um meiner Frau eine kurze Nachricht zu senden. Auch dafür ist die neue Energie gut. Während der Durchquerung des Hochlandes hatte ich den Kontakt eingestellt, weil ich im Flow war und über den langen letzten Anstieg dann nicht die Muße gehabt mich zu melden.
Langsam aber stetig
Mein Durst ist mittlerweile so schlimm, dass die Anziehungskraft der randvoll mit Wasser gefüllten Rindertränken steigt und steigt. Könnte ich nicht vielleicht einen Schluck daraus nehmen? Nur einen! Dem Getränk in der Trinkblase traue ich nicht und ich suche händeringend nach einer Alternative, einem See, einem öffentlichen Brunnen oder was auch immer. Schon lange träume ich von einer Dose Sprite. Aber selbst wenn ich hier zwischen den Rinderweiden plötzlich einen Pingo Doce oder Super Meu fände, würde ich etwas kaufen? Da schlagen selbst jetzt noch zwei Herzen in meiner Brust. Der Lauf wäre damit automatisch nicht mehr als „unsuppported“ anzusehen, also als Bestzeit ohne Unterstützung. Das wäre so dicht vor dem Ende irgendwie auch blöd.
Mit offenem Mund laufe ich durch den Regen, der wieder eingesetzt hat. Es ist eine kindliche Geste und gleichzeitig ein sinnloser Versuch, den schlimmsten Durst auf diese Weise zu lindern. Für ein volles Glas Wasser bräuchte ich Stunden. Die Situation hat eine gewisse Ironie. Vor dem Lauf war die eventuelle Unverträglichkeit meiner Getränke noch nicht einmal ein Randthema, beschäftigt hatte mich fast ausschließlich die Frage, wo ich meine Wasservorräte würde aufstocken können. Jetzt schleppe ich die Hälfte meiner Reserven ungenutzt mit mir spazieren und leide doch Durst.
Die Lösung des Problem ist ganz einfach. Je eher ich am Ziel ankomme, desto eher werde ich meinen quälenden Durst löschen können.
Blau-weiße Girlanden, ein paar Tränen und ganz viel Erleichterung
Unter fünf, unter vier, unter drei. Erste Häuser tauchen auf, verstreut noch, dann näher. Der lose Sand wird zu Asphalt. Untrügliche Zeichen dafür, der Stadt näherzukommen. Der Regen ist heftiger geworden und durchnässt mich komplett, während ich nach 51 km so richtig in die „Stadt“ komme. Auch Madalena ist ein Nest, global betrachtet eher Dorf als Stadt. In Relation zur gesamten Inselbevölkerung ist es trotz der nur knapp 3.000 Einwohner das urbane Zentrum der Insel.
SMS von zuhause. Meine Frau antwortet mir, vermutet, dass ich’s schon geschafft hätte und freut sich mit mir. Einen Kilometer noch, schreibe ich zurück und sehe die Antwort auf meiner Uhr: „Zieh! Du kannst so stolz auf dich sein! 🧡“ Das reicht aus, damit sich Tränen in meinen Augen sammeln. Es ist wirklich hart jetzt. Singend feuere ich mich selbst an. „Come on, come on, come on, come on!“. Das Lied von The Hives ist bestechend simpel und klar in seiner Botschaft. Ein Passant schaut verstört, weshalb ich innerlich weitersinge. Ich komme in eine Art Fußgängerzone, über mir rascheln blau-weiße Girlanden. Vorbei an den Tischen der Restaurants, eine Touristin in Trailrunning-Schuhen schaut mir interessiert zu.
Jetzt will ich nicht mehr stehenbleiben, will den Lauf auch laufend beenden. Und wenn es langsam sein muss, dann ist das eben so. Ankommen ist gleichbedeutend mit FKT, ich wäre der erste, der die Strecke läuft und eine Zeit reklamiert. Meine Vermutung ist, dass die Strecke am Hafen endet, doch mir scheint, dass es in Richtung Kirche geht. Und so ist es auch, kaum bin ich vor der Kirche angelangt, verkündet meine Uhr, dass die Route beendet sei.
Post-Lauf-Aktivitäten
Plumps, ich setzte mich auf der andren Straßenseite einfach etwas abseits auf den Boden, lege mich dann sogar hin. Einige Momente brauche ich zum Atmen, dann überkommt mich der Drang, den ganzen Übelkeit erregenden Mist loszuwerden. Allein ein Blick auf ein angebrochenes Gel löst Brechreiz aus. Nur mit Mühe breche ich nicht in das Blumenbeet links von mir. Beim Leeren der Trinkblase steigt mir der Geruch des Getränks in die Nase. Wieder ein Test für den Magen.
Ehe ich das Teufelszeug ausgegossen habe, habe ich noch einen Kontrollblick auf die Restmenge geworfen. 1,2 l sind in der Blase verblieben. Zusammen mit der ausgetrunkenen Flasche habe ich über die knapp sieben Stunden also 1,3 l Flüssigkeit aufgenommen. Das ist weit von jeder Empfehlung entfernt. Gerade bei der hohen Luftfeuchtigkeit und meiner Tendenz zum starken Schwitzen. Schleunigst muss ich mir einen Laden suchen, in dem man Getränke bekommt, ganz dringend auf einen anderen Geschmack kommen und den Flüssigkeitsverlust ausgleichen.
Einen Supermarkt finde ich auf die Schnelle nicht, also siegt meine Ungeduld. Aus einer Bar hole ich mir zwei Getränkedosen, eine Cola, eine Sprite. Die Sprite funktioniert ganz wunderbar für mich, mit der Cola habe ich Mühe. Im Schatten eines Baumes liege ich auf einer Bank und trinke ich wie einer, der gerade die Wüste durchwandert hat: Nicht zu schnell, in kleinen Mengen. Meine Laufschuhe habe ich ausgezogen und ich breit gemacht. Es ist mir egal, was die Leute denken. Man darf mir die Anstrengung ruhig ansehen oder mich wahlweise auch für einen Obdachlosen halte. Gut, dass ich drei Stunden habe, ehe der Bus abfahrt. Mir wird schon im Normalzustand schlecht im Bus.
Ein Ritt durchs Getränkesortiment
Als ich das Gefühl habe, dass die Getränke Wirkung zeigen, gehe ich einem Schild folgend zum nächstgelegenen Supermarkt. Diesmal besorge ich eine kleine Flasche Wasser und ein Wasser mit Mandarinengeschmack. Ersteres trinke ich in Nullkommanichts, das andere Getränk ist so künstlich, dass ich es direkt entsorge. Auf ein Neues: Fanta und eine größere Flasche stilles Wasser. Geht beides auch nur so lala. Die Fanta landet am Ende im Müll, mit dem Wasser kämpfe ich schluckweise. Aber mit jedem Schluck bessert sich meine Verfassung.
Schließlich lande ich in einer kleinen Bar am Hafen, nehme im Laufe des Nachmittags zwei alkoholfreie Biere, zwei Kaffee. Beides geht gut und ich spüre meine Lebensgeister zurückkehren. Und zwar in Form eines leichten Hungergefühls. Auf der Toilette wasche ich mich ein bisschen, dann schlendere ich zur anderen Seite des Hafens. Es gibt Softeis! Das isses! Tatsächlich habe ich mit dem Eis keine Probleme, verzichte aber vorsichtshalber auf die Waffel. Nach zwei Stunden oder mehr bin ich halbwegs trocken und schäle mich mitten auf der Straße aus meinen Klamotten. In weiser Voraussicht steckt ein Plastikbeutel mit sauberen Shorts und einem Shirt in meinem Rucksack. Ein eigenartiger Schmerz fährt mir ins linke Schulterblatt, als ich mich kurz mit nacktem Oberkörper auf den warmen Steinboden lege. Ich führe es auf die Hitze zurück, tatsächlich hat die Weste die Haut über die Stunden aufgerieben.
Weil immer noch nicht Abfahrtszeit ist, gehe ich noch eine Limonade im Fährterminal trinken. Die bringt es! Ich brauche kaum drei Sekunden, um das Glas zu leeren. Keine Spur von Magenproblemen. Dann erscheint der Bus, 20 Minuten zu spät. Er ist so voll, dass ich nicht alleine sitzen kann. Der Fahrgast direkt neben mir, ist nicht zu beneiden. Langsam fühle ich mich unwohl. Eine Dusche wäre überragend, meine Haut klebt! Ich möchte aus meinen halb-feuchten Schuhen, aber das kann ich keinem zumuten. Erst als nach und nach nahezu alle Fahrgäste den Bus verlassen haben – bis ans andere Ende der Insel möchte kaum jemand – kann ich mich gehen lassen und habe viel Zeit, die Insel noch einmal zu erleben.
Der Kreis schließt sich
Weil mir meine extrem hilfsbereite Gastgeberin auf Nachfrage über WhatsApp ein bestimmtes Restaurant empfiehlt, verwerfe ich nach kurzem Zögern meinen bisherigen Plan, gleich in der Nähe der Haltestelle in einer Bar einen Snack zu essen. Das Hotel selbst bietet kein Abendessen an. Wobei ich bestimmt was bekommen hätte, hätte ich Anne-Lise rechtzeitig gefragt. Von meinem Standort aus sind es drei Kilometer bis zum Restaurant, dem nächstgelegenen. Immerhin liegt das Hotel auf dem Weg, weshalb ich so wenigstens vor dem Essen duschen kann. Ob ich ein Taxi brauche, fragt Anne-Lise per WhatsApp. Sie weiß von meinem Lauf und ich habe mich scherzhaft über die Entfernung zum Restaurant beschwert.
Die Dusche ist wegen der Wunde an der Schulter und eines Sonnenbrandes schmerzhaft aber herrlich und der Weg zum Restaurant tut sogar gut. Ich fühle mich wieder vollkommen hergestellt. An einem Tisch auf der Terrasse des Restaurants sitzend, ein Bier vor mir und einen vegetarischen Burger – wer hätte das gedacht? – mit hausgemachten Pommes, endet der Tag auf perfekte Weise. Ich Sichtweite blinkt in der einsetzenden Dunkelheit beruhigend ein Leuchtfeuer. Mein Blick fällt direkt auf jenen Leuchtturm, an dem ich beim ersten Tageslicht die Überquerung der Insel Pico begonnen habe. Fast 15 Stunden ist das nun her, 15 Stunden, die sich nach einer Ewigkeit anfühlen.