Lauftagebuch

Laufen in der Nachbarschaft: Das Projekt ‚Run Every Street‘

Welcher Läufer kennt das nicht? Mindestens die erste Kilometermarke in jeder Himmelsrichtung rund um die eigene Haustür kennt man genau, hat jede Straße in direkter Nachbarschaft schon viel zu oft durchlaufen, kennt jedes Haus und jede Laterne. Zumindest bei mir schlägt sich das manchmal auf die Motivation nieder, es fehlen die neuen Reize im Läufereinerlei. Beim Laufen in anderer Umgebung ist es ungleich einfacher.

Weil ich aber natürlich nicht ständig im Urlaub sein kann, sollte mir das Projekt „Run Every Street“ genau hierbei helfen: Abwechslung in meine Routineläufe bringen. Es handelt sich dabei um eine Idee, die im Ursprung von Rickey Gates stammt, der 2018 den Entschluss fasste, alle Straßen San Franciscos abzulaufen. Als geistiger Vater der Bewegung, stand er vor der Herausforderung, sein Zielgebiet einzugrenzen, sich die entsprechenden Straßen zu besorgen, den Fortschritt zu protokollieren und nicht zuletzt eine besonders effiziente Routenplanung zu verfolgen. Probleme, für die es inzwischen einige hilfreiche Tools gibt, auf die Gates als Pionier noch nicht zurückgreifen konnte.

Festlegung des Zielgebietes

Für die Beantwortung auf die Frage, welche Straßen zu meinem Ort gehören, griff ich auf Website citystrides.com zurück. Die Website ist nicht nur in dieser Beziehung eine große Hilfe, sondern für alle Läufer mit ähnlichen Vorhaben eine Art Schweizer Taschenmesser. Für Burgdorf (bei Hannover) wies die Site 502 Straßen mit einer Gesamtlänge von 203 km aus. Darunter bereits einige relativ neue Straßen in Neubaugebieten.

Blau umrandet das relevante Straßennetz von Burgdorf – Quelle: citystrides.com

Protokollierung

Im Prinzip hätte ich auch für die Buchführung die oben genannte Website nutzen können, hatte mir vorgenommen jeden einzelnen Knoten abzulaufen. Zur Erklärung: Jede Straße besitzt eine gewisse Anzahl von Knoten. Ist ein Schwellwert erreicht, gilt die Straße als erledigt. Es sei denn, man nutzt die Premium-Option, im „Hard“-Modus zu laufen.

Weiterer Vorteil eines Premium-Zugangs ist es, fehlende Knoten aufspüren zu können. Wer, so wie ich, die kostenlose Variante nutzt, muss seine Knoten selbst im Auge behalten. Absolvierte Straßen werden auch durch das System vorgehalten, nur eben mit der Einschränkung, dass sie nicht immer zu 100 % erledigt sein müssen.

Ich entschied mich, die Straßen in eine eigene Tabelle zu übertragen und dort zu vermerken, wann ich eine Straße wirklich zu 100 % erledigt hatte.

Routenplanung

San Francisco ist riesig, nicht vergleichbar mit meiner grob 30.000 Einwohner zählenden Heimatstadt. Gates musste also sehr viel mehr darauf achten, nicht zu viele unnötige Kilometer zu sammeln und bei der Routenpanung die doppelt gelaufenen Strecken zu minimieren. In der Mathematik kennt man das „Problem des Handlungsreisenden„, das sich mit einer ähnlichen Fragestellung befasst.

Aus weniger Straßen (502 gegenüber 2183) ergeben eine erheblich kürzere Gesamtdistanz (203 km / 1674 km). Da sind mathematisch anspruchsvolle Lösungen – auch hierfür gibt es Tools – nicht ganz so entscheidend. Ich setzte auf meine Ortskenntnis und Augenmaß.

Ganz vermeiden ließen sich doppelt gelaufene Strecke nicht, weil ich zum Beispiel nicht alle Straßen der größeren Ortsteile bei einem einzelnen Lauf abarbeiten konnte oder wollte. Der kürzeste Weg in diese Ortsteile führte naturgemäß immer über die gleichen Straßen. Unvermeidbar war es auch, Straßen vor der eigenen Haustür immer wieder zu durchlaufen. Das liegt in der Natur der Sache.

Regeln

Sicher gibt es einen semi-offiziellen Satz an Regeln für „City strider“, ich befolgte meine eigenen. Wie bereits beschrieben, wollte ich jeden einzelnen Knoten in meiner Stadt im Laufe eines Jahres ablaufen. Die relevanten Straßen (und Knoten) lieferte mir citystrides.com. Die Site definierte nur solche Straßen als relevant, die einen Straßennamen tragen. Zahlreiche Feld- und Forstwege entfielen damit.

Für mein Projekt wollte ich bei null anfangen, nicht auf dem Aufsetzen, sonst hätte ich wohl schon zwei Drittel aller Straßen auf der Haben-Seite gehabt. Deshalb legte ich eigens einen neuen Strava-Account an, den ich manuell mit Aktivitäten fütterte, die meinem Projekt dienlich waren. Hätte ich meinen bestehenden Strava-Account mit citystrides.com verknüpft, wären auch meine historischen Läufe synchronisiert worden und der Fortschritt meines Projektes um einiges schwerer nachzuvollziehen gewesen.

Erst im Laufe des Jahres überlegte ich mir, dass es zu meinen Regeln zählen sollte, alle Knoten von zuhause aus zu erreichen. Nur einmal rückte ich von meinem Vorsatz ab, als ich vom Tannenbaumschlagen nach Hause lief und dabei die am weitesten entfernte Straße gleich mit erledigte. Ein kleines Weihnachtsgeschenk sozusagen.

Prozess

Gerade am Anfang hakte ich mit jedem Lauf unzählige Straßen ab. Ohne extra vorher festgelegte Routen ging ich systematisch vor und arbeite mich planmäßig Straße für Straße durch die einzelnen kleinen Wohngebiete. Je weniger Straßen fehlten, desto weiter musste ich laufen, um sie überhaupt zu erreichen. Die Anzahl der pro Lauf erledigten Straßen nahm dadurch im Laufe der Monate ab.

In den ersten beiden Monate des Jahres schaffte ich also überproportional viele Straßen, insgesamt 435 (Januar 328, Februar 107). Dass die Anzahl der Straßen Mitte des Jahres sogar auf Null sanken, lag dann allerdings daran, dass ich das Ziel aus den Augen verlor, andere läuferische Prioritäten (Laufen auf den Azoren) setzte und teilweise auch das Laufen auf ein Minimum reduzierte.

Erledigte Straßen pro Monat

Erst mit Blick auf das drohende Jahresende kam wieder Zug in das Vorhaben und ich begann im November systematisch die letzten Straßen abzuarbeiten. Darunter auch diejenigen, die am weitesten von zuhause entfernt lagen. Und Problemfälle: Vereinzelte Knoten vermeintlicher erledigter Straßen und solche Knoten, die auf Privatgrundstücken lagen. Davon gab es wenige, aber manchmal verwechselte citystrides.com private Auffahrten oder ähnliches mit öffentlichen Straßen. Da ich keine Absperrungen umgehen musste, entschied ich mich dafür, auch diese Knoten abzulaufen.

Ergebnis

20 Jahre laufe ich inzwischen sicherlich schon mehr oder weniger regelmäßig und verbringe schon mein halbes Leben in Burgdorf, einer Kleinstadt. Man könnte annehmen, dass ich eh schon jede Straße kennen würde. Aber weit gefehlt. Das Projekt „run every street“ führte mich in Ecken meiner Heimatstadt, die ich wirklich noch nie gesehen hatte. Allein schon dafür hat sich das Unterfangen bezahlt gemacht.

100 % erledigt! Quelle: citystrides.com

Und was ist mit der Motivation, die ich mir für meine Alltagsläufe gewünscht habe? Auch darauf hatte das Projekt positiven Einfluss. Oft sind Grundlagenausdauerläufe eine reine Frage von Disziplin und Geduld. Das „City-Striding“ gab dem monotonen Gelaufe ein Ziel. Wo ich sonst sehnlichst den nächsten vollen Kilometer herbeisehne, war ich abgelenkt durch den Vorsatz noch die nächste und übernächste Straße zu absolvieren. Manchmal löste das einen echten Sammeltrieb aus und ich musste mich regelrecht dazu zwingen, meinen Lauf zu beenden.

Einen weiteren Ort abzulaufen kann ich mir trotzdem nur dann vorstellen, wenn ich noch einmal umziehe. Andernfalls ist die „Anfahrt“ einfach zu groß – dafür reicht die meine Zeit einfach nicht aus. Trotzdem war es eine lohnenswerte Erfahrung. Spätestens jetzt kann ich mit Fug und Recht behaupten, jede Straße in Burgdorf zu kennen.

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