Wettkampfberichte

Sete Cidades: Der härteste Trail auf São Miguel

Die letzten Meter dieses Laufes sind krank, auf eine Art das härteste, das ich je gelaufen bin. Die Steigung ist einfach nur noch brutal. Dazu kommt der Untergrund. Bei jedem Schritt verliere ich den Halt auf den losen Steinchen. Kennt noch jemand Seramis? Das Granulat unter meinen Füßen gibt überhaupt keinen Halt. Völlig zerstört unterbreche ich selbst das Gehen. Mir ist schwindelig von der zweistündigen Anstrengung. Der Schweißverlust war ebenso stark wie meine Bemühungen, die bestehende Fastest Known Time (FKT) auf dem Lagoa Azul Circuit zu unterbieten. Jetzt ist alles für die Katz.

Was war passiert, dass ich auf den letzten viereinhalb Kilometer meinen Puffer so komplett aufgebraucht habe?

Vorbereitung? Brauche ich nicht!

Sogar noch nach 18 km war ich mir gewiss, eine neue Bestzeit relativ locker aufzustellen. Vielleicht zu sehr. Ehrlich gesagt hatte ich mich nicht einmal speziell auf den Lauf vorbereitet, nur flüchtig die Route angesehen und die Bestzeit wie als selbstverständlich abgehakt. Zwei Stunden für weniger als 20 km schienen mir keine Hürde, trotz der nennenswerten 600 Höhenmeter. Der Lauf um die Caldera Sete Cidades sollte nur das Aufwärmen für die geplante Überquerung der Insel Pico werden. Das mag zumindest einen Teil meiner schlechten Vorbereitung entschuldigen.

Laissez-Faire-Vorbereitung hin oder her, die ersten Kilometer gaben meiner Selbstsicherheit weiteren Auftrieb. Keine Spur davon, dass die kurze Nacht und die lange Anreise negativen Einfluss auf meine Leistung genommen hätten. Der Lauf war meine erste Aktivität auf der größten Azoren-Insel São Miguel und sollte das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Die beiden Kraterseen Lagoa Azul und Lagoa Verde sind eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Azoren, gelten sogar als das schönste Gewässer Portugals. Das wollte – musste! – ich unbedingt mit eigenen Augen sehen! Warum also nicht mit einem Lauf verbinden?

Im Nebel auf dem Pico da Cruz

Zu sehen waren allerdings zu Beginn vor allem Morgennebel oder Wolken, die nur selten so weit aufbrachen, dass sie einen Blick auf die tief unter mir liegenden Seen zuließen. Im Nebel hatte der kleine Park am Lagoa do Canario, wo ich um kurz nach 9 Uhr gestartet war, etwas Mystisch-Exotisches. Moos auf Steinbänken und Tischen glich Schwämmen, die Farne und Bäumen tropften vor Feuchtigkeit.

Im Park am Lagoa do Canario
Im Park am Lagoa do Canario
Die Wolken nehmen die Sicht auf Sete Citades
Die Wolken nehmen die Sicht auf Sete Cidades

Etwas versteckt hatte mich eine Lücke in einem Erdwall aus dem Park an den Rand der Caldera geführt, dann auf den Pico da Cruz, den höchsten Punkt der Stecke auf 845 m. Schon auf diesem ersten Steilstück entschied ich mich für einen Wechsel vom Laufen zum Gehen. Annähernd 20 % betrug die Steigung an den steilsten Stellen.

Zumindest so viel wusste ich: Von hier an würde es kilometerweit bergab gehen. Eine gute Gelegenheit, etwas aufs Tempo zu drücken. Ab dem Pico da Cruz blieb ich die folgenden Kilometer weit unter fünf Minuten. Mit jedem Kilometer stieg auch meine Sicherheit. So konnte es weitergehen. Wobei: Anstrengend war der Lauf schon. Der Puls bewegte sich konstant zwischen 170 und 180 Schlägen. Normal für mich in einem Wettkampf, aber hätte er bei dieser Pace mit dem Gefälle im Rücken nicht niedriger sein sollen? Zuletzt hatte ich wenig Tempotraining gemacht und ich war nicht in der allerbesten Form. War das der Grund?

Gleich zu Beginn geht es steil hinauf
Gleich zu Beginn geht es steil hinauf

Wenn es doch nur immer so weitergehen könnte…

Vielleicht das: Noch immer befand sich der links von mir liegende Krater – ich umrundete ihn gegen den Uhrzeigersinn – meistens unter Wolken. Das hatte den positiven Effekt, dass es noch immer relativ kühl war. Allerdings war die auf den Azoren typisch hohe Luftfeuchtigkeit für mein sonst schon starkes Schwitzen als gieße man Öl ins Feuer. Ströme aus Schweiß durchnässten meine Funktionsklamotten, rannen mir übers Gesicht und aus allen Poren.

Spätestens nachdem ich bei Kilometer acht noch einmal wegen eines kurzen Anstiegs zum Gehen gezwungen war, befasste ich mich immer intensiver mit der Frage, ab wann die Kletterei zurück zum Ausgangspunkt beginnen würde. Die beiden Anstiege, denen ich bisher die Stirn hatte bieten müssen, waren mir Mahnung genug. Trotzdem war ich weiterhin fest davon überzeugt, die FKT schon in der Tasche zu haben. Der Blick auf die andere Kraterseite verhieß nichts Gutes. Auf meinem bisherigen Weg hatte ich schon einiges an Höhe verloren, der steile Kraterrand machte das besonders deutlich. Aber meinetwegen hätte sich das noch ein bisschen fortsetzen können.

Bereits nach etwa zehn Kilometern erreichte ich viel früher als erhofft den tiefsten Punkt der Strecke. Von jetzt an würde es bergauf gehen, waren mindestens 400 Höhenmeter zu bezwingen. Bisher war ich meistens auf sehr gut laufbaren Schotterwegen unterwegs gewesen, jetzt ging es kurzzeitig sogar über Asphalt. Über die ersten zwei Kilometer der Steigung wechselte ich je nach Grad der Steigung zwischen Gehen und Laufen, kam dann in einen flacheren Bereich, der sich anständig laufen ließ.

Blick auf die östliche Kraterseite von Sete Citades
Blick auf die östliche Kraterseite von Sete Cidades

Siegessichere Blicke auf die Sete Cidades

Nach 14 km sah ich mich endgültig auf der sicheren Seite, wähnte das Schlimmste schon hinter mir. Den letzten Kilometer hatte ich in 5:33 min zurückgelegt und damit 45 min für die restlichen 5,5 km. Endlich war die Wolkendecke aufgebrochen und ich hatte wegen des schier endlosen Polsters Muße ein Foto zu schießen.

Gut zu sehen ist der Farbunterschied der beiden Seen
Im Vordergrund der kleinere Lagoa Verde, dahinter Lago Azul.

Ein Wanderer, der die Szenerie ebenfalls fotografierte, sah mich so neugierig an, als erwarte er eine Erklärung für meinen Aufzug oder für das, was ich hier trieb. Stattdessen kommentierte ich das Offensichtliche und machte mich wieder an die Arbiet: „What a nice view!“.

Blick auf Lagoa Verde, im Hintergrund Lagoa Azul
Blick vom Vista do Rei auf Lagoa Verde, im Hintergrund Lagoa Azul

Waren mir auf der gegenüberliegenden Kraterseite nur gelegentlich Wanderer begegnet, nahm die Häufigkeit der Begegnungen jetzt zu. Manchmal glaubte ich anerkennenden Blicken zu begegnen, manchmal skeptischen oder gar ablehnenden. Kann sein, dass ich einigen das Gefühl sportlicher Betätigung beschnitt, indem ich ihnen laufend entgegen kam, bergauf noch dazu. Die Kühe auf der ersten Hälfte des Laufs hatte mich mit Gleichgültigkeit gestraft.

Eine Ansammlung Touristen kündigte den Vista do Rei, einen der Aussichtspunkte über die Seen, an. In der Tat war der Blick von hier auf die Zwillingsseen atemberaubend. Die namensgebende Färbung der Seen war von hier besonders gut zu erkennen. Die Sonne ließ den vorderen See grün schimmern, den hinteren blau – Lagoa Verde und Lagoa Azul. Überragt wird der Aussichtspunkt von der Ruine des ehemaligen Luxushotels Monte Palace. Schwärzlich verfärbt baute sich die Betonfassade am Rande der Caldera auf. So monströs wie imposant. Wie sensationell muss der Blick aus den Hotelfenstern dereinst gewesen sein? Heute ist es ein beliebter (illegaler) Aussichtspunkt.

Ehemaliges Luxus-Hotel Monte Palace
Ehemaliges Luxushotel Monte Palace

Das Leiden beginnt am Vista do Rei

Hätte ich gewusst, dass ich mich zwischen Kilometer 12 und 14 nur auf einem kleinen Plateau befunden hatte und mir die härtesten Steigungen noch bevorstanden, wäre ich mir nicht so sicher gewesen. Schon auf dem Kilometer vor dem Aussichtspunkt betrug meine Pace über sieben Minuten pro Kilometer, auf Kilometer 16 dann 7:08 min. Es sollte bis zum Ende der Strecke der schnellste Kilometer bleiben. Jetzt ging die Party richtig los.

Seit dem Vista do Rei verlief die Strecke über die Hauptverkehrsstraße, die zu den verschiedenen Parkplätzen rund um die Aussichtspunkte führte. Auf den engen Straßen blieb nicht viel Platz, den Fahrzeugen auszuweichen, nur ein schmaler Streifen zwischen Leitplanke und der eigentlichen Spur. Für Spielereien wie einen Gehweg war hier einfach kein Platz. Hatte ich schon vorher das Gefühl, die Wanderer zu verstören, war ich mir bei den Autofahrern ziemlich sicher: Die hielten mich für leicht bescheuert, wie ich da die Steigung hinauf schnaufte wie eine Dampflok.

Mir war es kaum noch möglich, längere Strecken zu laufen, war aber trotzdem bis zum schon erwähnten 18. Kilometer noch immer überzeugt davon, es rechtzeitig zum Parkplatz zu schaffen. Rund 13 Minuten hatte ich von hier noch für die 1,5 km bis zum Ende der Route. Kein Selbstläufer, aber solange ich die Zähne zusammenbiss und das Gelände etwas abflachen würde, ein gutes Polster. Wenn da nicht eins zum andren gekommen wäre. Zuerst mühte ich mich völlig umsonst 100 m die Straße herauf, ehe ich registrierte, dass ich auf einen Forstweg hätte abbiegen müssen. 200 m umsonst.

Meine Beine waren jetzt wirklich blau und Laufen, egal in welcher Pace, tat einfach nur noch weh, bergauf war es gar eine richtige Tortour. Dankenswerterweise führte der Weg wenigstens einige hundert Meter abwärts. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Der Endgegner wartete. 20 % Steigung und lose Steinchen als Untergrund raubten mir die letzte Kraft, brachten mich wirklich ans Ende meiner Leidensfähigkeit. Da, wo es flach war, fehlte schlicht und ergreifend ein Weg. Hüfthohe Rinnen waren von Wasser aus dem Boden gewaschen, so schmal, dass ich eigentlich nur mit einem Bein hineintreten konnte. Ein Lauf war das nicht mehr.

Die letzten Meter sind eine harte Prüfung

Das war also, was auf den zurückliegenden Kilometern passiert war. Vom Rand des Anstiegs blickt neugierig ein Menschen herab. Zuschauer kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Mit meiner Mühsal wäre ich ganz gerne allein, will nur noch am Parkplatz ankommen. Mehr krabbelnd als gehend erreiche ich den Rand des Anstiegs und finde mich auf der Straße wieder, die ich bei Kilometer 18 verlassen habe. Na toll, hatte der Schlenker Not getan? Rechts ist das Ziel sozusagen.

Allein für die letzten 1,7 km brauche ich fast 24 Minuten, 14 Minuten für die letzen 670 m. Das entspricht einer Pace von über 20 Minuten pro Kilometer! Komplett fertig erreiche ich nurmehr gehend den Parkplatz am Lagoa do Canario, bin heilfroh die Strecke überhaupt beendet zu haben. 2:10 Std. für 19,6 km. Zehn Minuten über der Bestzeit. Ach herrje, das war grenzwertig anstrengend!

Der Parkplatz ist inzwischen bis auf den letzten Platz voll besetzt, um 9:15 Uhr war ich noch fast allein hier oben. Ich schleppe mich zum Auto, um mich hinzusetzen, etwas zu trinken und ein bisschen Lakritz zu essen. Mir ist immer noch schwindelig. Mein Wasserverlust durchs Schwitzen muss erheblich gewesen sein. Ich tropfe, als wäre ich gerade durch die Sete Cidades geschwommen, anstatt sie zu umrunden.

Eine schnelle Versöhnung

Wie hatte ich den Lauf nur so unterschätzen können? Die Steigung am Ende war das Eine. Die Luftfeuchtigkeit der vielleicht noch stärkere Faktor, den ich nicht bedacht hatte. Meine Enttäuschung hält nur kurz vor. Ich bin nicht nur zum Laufen hier. Zu Fuß mache ich mich auf den Weg zum Lagoa do Canario, dann zum Boca do Inferno. Mir war gar nicht klar, dass ich so nah an diesem spektakulären Aussichtspunkt vorbeigelaufen war. Wie unfassbar ist der Blick von hier oben? Das Ausmaß der Caldera ist überwältigend, schroff und schön. Meine Enttäuschung verwandelt sich in Stolz. Hier überhaupt gelaufen zu sein, entschädigt für jeden Tropfen schweiß

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