Wettkampfberichte

8. SuMeMa – Wer da mitmacht, ist selber schuld

Ich bin spät dran. Mein Blick geht immer wieder zur Uhr auf dem Armaturenbrett. Wenigstens einige Minuten habe ich gegenüber der ersten Prognose des Navis herausgeholt und werde voraussichtlich knappe zwanzig Minuten vor dem Start des 8. SuMeMa in Wendhausen ankommen. Den Stress hätte ich mir ersparen können, wenn ich meine übliche Prokrastination heute abgelegt und den Aufbruch nicht bis zuletzt hinausgeschoben hätte.

Es wird heute meine zweite Teilnahme am Südkreismeilenmarathon. Weil ich aus meiner ersten Teilnahme vor einem Jahr dazugelernt habe, parke ich heute im Ort. Sicher ist sicher, nachdem ich im letzten Jahr eigens von Veranstalter Michael aus dem Acker gezogen werden musste. Rüffel vom Bauern inklusive. Mit dieser Aktion habe ich es sogar bis ins Briefing der diesjährigen Ausgabe des Benefizlaufs geschafft – als mahnendes Beispiel.

Keine Zeit, um nervös zu werden

Die wenigen hundert Meter zum Vereinsheim des SV Wendhausen lege ich schnell zu Fuß zurück. Es ist frisch, aber nicht kalt. Die vorausgesagten Temperaturen liegen um die 5 °C. Mehr Sorgen macht mir die Streckenbeschaffenheit. Wie überall in der Republik hat es auch im südlichen Hildesheimer Landkreis die letzen Wochen sintflutartig geregnet. Die Bilder von der Streckenkontrolle sprachen Bände.

Schnell noch husche ich auf Toilette und höre unabsichtlich die Unterhaltung von zwei Mitläufern. Ganz offenbar bin ich nicht alleine damit, dass ich auf den ersten Kilometern eines Laufs akute Probleme mit der Blase habe. Apropos akute Probleme. Irgendwas ist mit meiner Stirnlampe nicht in Ordnung. Aufgeladen ist sie, nur sitzt sie einfach beschissen, baumelt und rutscht. Drei Minuten bis zum Start, Michael brieft bereits die knapp über 60 Teilnehmer und Teilnehmerinnen.

Notdürftig friemele ich die Lampe an meine Kappe und geselle mich zu den Anderen. Eine Rakete steigt in den noch tiefschwarzen Himmel und es geht los. Zeit, um nervös zu werden, habe ich nicht.

Vor dem Start des 8. SuMeMa © F. Jungclaus
Vor dem Start des 8. SuMeMa © F. Jungclaus

Das Ziel lautet: 8 Stunden

42,195 Meilen liegen vor mir, das sind etwas mehr als 68 km. Das kann Angst machen und tut es auch. Zumindest ein bisschen. Wobei es eher Respekt ist, den mir die lange Strecke abnötigt. Das habe ich auch meinem jüngsten Sohn so gesagt. Dieser hatte mit kindlichem Optimismus eine Stunde für die Strecke veranschlagt.

Acht sollen es werden, so mein Plan. Etwas drunter, wäre schön. 2023 war ich reichlich erledigt nach 8:04 Std. ins Ziel gekommen, völlig überrascht von der Strecke. Diesmal weiß ich, was mich erwartet. Das ist ein Punkt auf der Habenseite. Nur waren die Streckenverhältnissen im Vorjahr wesentlich besser. Seriös voraussagen lässt sich sowieso nichts. Für meinen Sechsjährigen war allein schon die Vorstellung acht Stunden ohne Schlaf zu laufen ein Wunder.

Der Start ist gemächlich

Eilig hat es anfangs fast niemand, zudem geht es einen ernstzunehmenden Hügel hinauf. Im Licht der Stirnlampen springen aufgeschreckte Rehe über den Trail, die nahe A7 rauscht. Im Dunkeln ist Vorsicht geboten. Die Wege sind rutschig von Laub und Matsch, Äste liegen quer. Nach fast 30 Minuten liegt vor uns glitzernd Hildesheim, ehe es jäh einen veritablen Hang hinauf geht zur Kreuzkapelle von Ottbergen. Stöcke könnten hier hilfreich sein, hatte es geheißen…

Das Tageslicht lässt noch auf sich warten und entsprechend schwer ist der Weg am oberen Ende des Anstiegs zu finden. Ich bin froh, dass die letztjährige Gewinnerin der Frauenwertung an dieser Stelle die Führung übernimmt und den richtigen Trampelpfad auswählt. Weil es mir gut geht und der Weg über den Blaubeerenberg für eine Weile eben verläuft, setze ich mich wenig später von der kleinen Gruppe an, in der ich bisher mitgelaufen bin.

Das hat den Nachteil, jetzt alleine für die Wegfindung verantwortlich zu sein, was er erst auf dem letzten Teil dieses Trails anspruchsvoller wird. Ein gelegentlicher Schulterblick zeigt mir, dass ich nicht vom Weg abgekommen bin, eine Kette von Stirnleuchten folgt in geringem Abstand. Vielleicht führe ich aber auch alle in die Irre. Das ist natürlich Blödsinn, wir alle haben den Track des Laufs auf der Uhr, ein Verlaufen ist praktisch unmöglich.

Auf Laves´ Kulturpfad zum VP 1

Auf dem Langen Berg wird es erstmals so richtig matschig und ich bin fürs erste froh, dass es danach über einen Forstweg auf eine Landstraße geht. Einfache Meter. Grau ist der Tag angebrochen, besser wird es nicht. Südlich der A7 geht es über den Ortsberg nach Astenbeck, vorbei am Brauereigut – auf ein Bier nach dem Lauf freue ich mich schon jetzt – über die Innerste nach Derneburg.

Am ersten VP an Schloss Derneburg © Michael Hartmann
Am ersten VP an Schloss Derneburg © Michael Hartmann
Das Mausoleum am Schloss Derneburg
Das Mausoleum am Schloss Derneburg

Durch einen herrschaftlichen Landschaftspark nähere ich mich über den LavesKulturpfad dem ersten Verpflegungspunkt im Schatten von Schloss Derneburg. Ich fülle meine Flasche auf, nenne meinen Namen und ziehe mit einer Hand voll Gummibären leine. Ich habe es nicht eilig, fühle mich aber gut und habe keinen Grund länger zu verweilen.

Etwas mehr Zeit hätte ich mir nehmen sollen, meine Flasche leckt. Entweder ist der Verschluss der Kohlensäure im Iso-Getränk nicht gewachsen oder ich habe ihn unsauber aufgeschraubt. Zuerst versuche ich durch Abtrinken die Flut einzudämmen. Erfolglos. Trinken kann aber nicht schaden. Also Deckel ab und wieder drauf und siehe da, das Leck ist gestopft. Jetzt kann ich mich voll auf die Pyramide und den im griechischen Stil erbauten Tempel konzentrieren. Beides wirkt im Hildesheimer Umland deplatziert und trotzdem beeindruckend.

Über den Sauberg

Das Gelände steigt jetzt kontinuierlich an. Zuerst spüre ich nichts davon, genieße die Trails durch den Wald. Dafür sehe ich die Steigung umso deutlicher, als ich den Wald verlasse. Nach 20 km entscheide ich mich erstmals fürs Gehen. Am Rande eines Waldes geht es einigermaßen steil hinauf, der Boden ist schlüpfrig. Kraft sparende Maßnahmen. Nur zu gut kann ich mich erinnern, was noch auf uns alle wartet. Doch zuerst Gutes: Auf den Teil direkt vor habe ich richtig Bock.

Blick vom Sauberg
Blick vom Sauberg

Die Strecke führt direkt über einen Kammweg, vorbei am Steinbruch Wesseln zum Turmberg. Zwei Kilometer bergab Verschnaufpause, dann wird es schweinisch. An der B243 sind 25 km absolviert und es steht ein drei Kilometer langer Anstieg zum Sauberg Höhenweg an. Den ersten Kilometer gebe ich mir noch laufend, dann entscheide ich mich mit den Reserven hauszuhalten. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Im letzten Jahr war ich hier bereits völlig entnervt und kämpfte erstmals mit dem Gedanken an ein DNF.

Davon heute keine Spur. Ich genieße den Weg nach Wehrstedt. Nur an zweiter Stelle, weil es bergab geht. Alleine durch den in Nebel gehüllten, vor Nässe tropfenden Wald zu laufen, macht einfach nur Spaß. Trotzdem sind die Muskeln in meinen Beinen nicht mehr ganz so frisch, haben sie mich doch immerhin schon 30 km weit getragen. Eine Treppe führt mich hinab in den Ort. Treppensteigen – auch abwärts – haut rein.

Die erste Ermüdung bahnt sich an

An VP 2 bittet Michael in seiner Garage zu Tisch. Man könnte sich durch die gesamte Geschmackspalette futtern, von süß bis salzig. Ich beschränke mich darauf, meine Gels aufzustocken und meine Flasche aufzufüllen, lehne alles andere mit einem Hinweis auf meinen Magen ab. Einzig die Brühe reizt mich, ist aber leider nicht vegetarisch. Michaels Frage nach der Beschaffenheit der Trails beantworte ich wahrheitsgemäß: Laufbar meistens und weit weniger sumpfig als erwartet. Aber das wird noch kommen, da bin ich mir sicher.

Eilig habe ich es nicht, wie es die Helferin am VP vermutete, es gibt nur einfach nichts weiter zu tun als zu laufen. Im letzten Jahr hatte ich den VP eigentlich nur aus Trotz verlassen, aber ohne rechte Überzeugung, den Lauf wirklich zu schaffen. Heute geht es mir wesentlich besser und doch ist der Weg nach Maiental beschwerlich. Eben schien alles noch locker, jetzt mühe ich mich die lange Straße hinab.

Vielleicht lähmt der bevorstehende Anstieg zum Fernmeldeturm auf dem Griesberg meine Beine. Die Erschöpfung beginnt oft im Kopf. Dann unterläuft mir auch noch ein Fauxpas: Ich wähle den falschen Trail hinauf und finde mich auf der falschen Seite des Klusbaches wieder. Weil der Bach trotz der Regenfälle nicht ausgeufert ist, entscheide ich mich für die einfachste Lösung und Springe beherzt über den Wasserlauf. Auf der anderen Seite begrüße ich die beiden Läufer, die nach mir am VP eingetrudelt sind.

Gipfelsturm

Prophylaktisch hatte ich mich mit einem „Bis gleich“ am letzten VP von ihnen verabschiedet. Fabian hatte ich wiedererkannt, er war beim EICUT65 weit vor mir ins Ziel gekommen und wirkte noch genauso gut drauf wie sein Begleiter. Ich hingegen steckte in meinem ersten kleinen Tief, dass vom einsetzenden Regen passend untermalt wird.

Auf dem Griesberg
Auf dem Griesberg

Mir kommt zu passe, dass der Trail zum Griesberg so steil und matschig ist, dass Laufen aus für das Duo nur stellenweise überhaupt möglich ist. So bleibe ich eine ganze Weile in Schlagdistanz und orientiere mich an ihrem Rhythmus. Gehe, wenn sie gehen, laufe, wenn sie laufen. Der viele Matsch verleitet einen der Beiden zu einem Witz über weiße Laufschuhe. Ich muss schmunzeln. Letztes Jahr hatte ich tatsächlich schwarz-weiße Straßenlaufschuhe an. Ertappt! Immerhin habe ich aus meinem Fehler gelernt und artig die Trailschuhe angeschnallt.

Um kurz nach 11 Uhr passiere ich erstmals das Gipfelkreuz auf dem Griesberg. Bunte Fähnchen erinnern an Tibet, an den Mount Everest. Mit 360 m ist er nicht einmal ein richtiger Berg, aber höher müssen wir heute nicht klettern. Ein Stück weiter schält der 130 m hohe Fernmeldeturm aus dem Nebel, die nächste Etappe auf dem Weg zum Ziel. Am dortigen Zaun hängt ein Stoffbeutel, aus dem sich jeder Läufer als Beweis eine Holzscheibe nehmen muss. Kein Taler, kein Finish!

Schlammpackung für den Allerwertesten

Vom letzten Jahr weiß ich, dass eine Wildkamera unser Treiben festhält. Ich entdecke sie in einem Baum, winke kurz und schnappe mir meinen Nachweis, den ich sicher in meiner Tasche verstaue. Wäre doch zu blöd ihn zu verlieren. Mir reicht es schon, dass ich leicht neurotisch immer wieder um den Autoschlüssel in meinem Rucksack bange. Einmal habe ich ihn sogar schon ertastet, um mich zu vergewissern ihn nicht verloren zu haben. Man stelle sich vor, dass ich eine 68 km lange Suchaktion starten muss…

Vielleicht sind meine Gedanken genau damit beschäftigt, als ich mit dem Hinterteil Bodenkontakt habe. Mir geht zwar nicht der Arsch auf Grundeis, aber ich habe den Halt verloren und mich wortwörtlich auf den Hosenboden gesetzt. Die Vorwarnung hätte es für den nächsten Abstieg gar nicht gebraucht. Der ist um einiges fieser, davon konnte ich mich schon vor ein paar Minuten überzeugen, als ich auf dem Weg nach oben daran vorbei gekommen bin.

Zuerst aber sehe ich eine kleine Gruppe, die sich aktuell auf dem Weg zum Fernmeldeturm befindet. Einer der Läufer ist ein Bekannter. Ich rufe Jörn einen kurzen Gruß und rutsche weiter. Am bereits erwähnten Abhang staut es sich. Einer der vor mir Laufenden scheint Mut für den Weg hinab sammeln zu müssen. Mit vorsichtigen Trippelschritten überwinde ich den Abhang und komme – wider Erwarten – ohne weiteren Ausrutscher unten an. Nochmals geht es für einen knappen Kilometer hinauf, dann über abschüssige Trails zu VP 3.

Partyhochburg Gertrudenberg

Kann ich VP 3 erreichen, kann ich mir auch das Finish vorstellen, dachte ich vor Stunden. Und in der Tat geht es mir noch sehr gut. Das Gefälle trägt mich, aber so richtig laufen lassen kann ich nicht. Die Trails sind einfach zu anspruchsvoll und ein Moment der Unachtsamkeit kann ganz schnell zu einem richtigen Schlammbad führen. Im Anflug auf das Haus Getrudenberg treffe ich bereits zum wiederholten Male Michael. Es ist wie bei Hase und Igel, wobei der Igel heute Auto fährt.

Abstieg vom Griesberg © Michael Hartmann
Abstieg vom Griesberg © Michael Hartmann

Das Haus Gertrudenberg macht seinem Ruf alle Ehre. Musik schallt mir entgegen und unwillkürlich spüre ich Euphorie. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen und lehne das angebotene Handtuch ab – der Regen ist steter Begleiter. Die Auslage ist noch besser als beim letzten VP, doch ich verzichte. Nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern aus Rücksicht auf meine Verdauung. Die scheint mir angegriffen.

Eine Helferin hat es eilig, meine Zeit aufzunehmen. Ich beruhige sie, dass das im Ziel eh keine Rolle spielt, wann ich hier war. Es ist sowieso noch so weit, und es kann viel zu viel passieren. Den Gedanken, eine der Leckereien für später einzupacken, verwerfe ich und mache mich auf. Bloß nicht zu lange verharren.

Mir ist zum Kotzen

Ab jetzt wird's ultrageil
Ab jetzt wird’s ultrageil

Am Waldrand hinter der Wohneinrichtung habe ich den Marathon erledigt, ab jetzt wird es „ultrageil“. Darauf ein Gel! Schon der Geruch lässt mich ahnen, was kommt, bevor ich auch nur einen Schluck davon genommen habe. Sei’s drum, rein mit dem Zeug. Das Gel will wieder raus, ich das Gegenteil. Mit Mühe gewinne ich den Kampf und zwänge den Kram in den Magen. Es ist ein Pyrrhussieg, der Wunsch nach Mehr ist mir gründlich und nachhaltig vergangen und ich werde den Rest des Ultramarathons ohne weitere Verpflegung auskommen müssen.

Möglich, dass meine Aufmerksamkeit wegen der Übelkeit kurz leidet, jedenfalls komme ich vom Weg ab. Dabei hatte ich schon letztes Jahr hier die Peilung verloren. Immerhin habe ich mir den Weg gemerkt, um über den Parkplatz der Reha-Kilinik wieder auf die reguläre Strecke zu gelangen. Dann bin ich mit einem der miesesten Anstiege des gesamten Ultralaufs konfrontiert. Nur 300 Meter lang weist der Hang Steigungen von über 30 % auf – und einen Weg gibt es nicht. Gerüchteweise ist den Hang noch niemand hinaufgelaufen.

Humor ist, wenn man trotzdem läuft © W. Schulz
Humor ist, wenn man trotzdem läuft © W. Schulz
Den Segelflugplatz von Wesseln im Blick
Den Segelflugplatz von Wesseln vor Augen

Oben angekommen erahnt man schon den Segelflugplatz von Wesseln. Beim Umrunden kommt mir ein Läufer entgegen, der mir noch viel Spaß wünscht. Ist das ein ironische Grinsen auf seinem Gesicht? Weiß er, was ich noch vor der Brust habe oder hält er einfach die Etikette unter Läufern ein? Die Feuerwehrsirene beendet die unsinnigen Gedanken. Es ist Mittag, fünf Stunden sind seit dem Startschuss vergangen.

Ein Pissweg, ein Hexenhaus und eine Schweinesuhle

An der Nordseite des Flugplatzes wartet ein Trail, der sich gewaschen hat. Er ist so schmal, dass keine zwei Läufer nebeneinander passen und dazu rutschig ohne Ende. Dementsprechend gehe ich immer wieder, um das Risiko einer Bauchlandung klein zu halten. Irgendwo im Internet lese ich im Nachhinein die inoffizielle Bezeichnung „Pissweg“ für diesen Abschnitt. Das kann man so stehen lassen.

Am Ende des Trails steht ein Gasthaus, an dem ich links vorbeilaufe. Das ist falsch, merke ich sobald meine Uhr mich anpiept. Zwischen mir und dem richtigen Weg liegt ein ordentlicher Geländeeinschnitt. Ich wäge meine Möglichkeiten ab. Vielleicht führen weiter vorne beide Wege wieder zusammen. Durch das kleine Tal kann ich jedenfalls nicht. Schließlich entdecke ich einen Weg über das Gelände des Hexenhauses. Glück gehabt. Jetzt kann ich mich wieder aufs Wesentliche konzentrieren: Laufen.

Durch den schon im Vorfeld als „dauerhaft matschig“ angekündigten Erlengrund schallt dann und wann immer noch Musik von Haus Gertrudenberg. Das Aufheulen des Megafons kündet von in unregelmäßigen Abständen eintreffenden Teilnehmern. Der Trail hält sein Versprechen, ist eine wahre Wildschweinsuhle! Aber auch er hat ein Ende. Anders als der Regen, der alles gibt, mich bis auf die Haut zu durchnässen. Umso froher bin ich, doch noch auf ein Outfit mit halbwegs Wasser abweisender Jacke umgesattelt zu haben.

Das erste echte Tief kommt nach 50 km

Ich komme in Teufelsküche. Erst geographisch, dann mental. Hinter der Teufelsküche kann ich kurz das Gelände nutzen und abwärts laufen. Schnell macht die Beschaffenheit des Weges dem Laufen wieder ein Ende. Quer liegende Bäume, Morast, Steigung. Wo es möglich ist, laufe ich, muss jetzt aber ganz schön beißen. Es wäre natürlich auch verwunderlich, wenn dem nicht so wäre.

In Teufelsküche
In Teufelsküche

Es ist nicht allzu lange her, dass ich in Gedanken schon davon träumte, nach locker siebeneinhalb Stunden im Ziel anzukommen oder noch viel früher. Doch da habe ich mich verspekuliert. Schon länger blicke ich nicht mehr auf die zurückgelegten Kilometer, nutze die Uhr ausschließlich zur Navigation. Durch Zufall blicke auf das Display, just als ich 50 km gelaufen bin. Ich hatte angenommen, schon weiter zu sein. 5:40 Std. habe ich für die 50 km gebraucht.

Und schon beginne ich zu rechnen: Um unter acht Stunden zu bleiben, sind es noch 2:20 Std. Das ist für 18 km normalerweise komfortabel. Aber der SuMeMa ist nicht normal, sondern eine Herausforderung der besonderen Art. Im Angesicht meiner zunehmenden Erschöpfung und der Bedingungen bin ich mir nicht sicher, ob ich die letzten Kilometer in 2:20 Std. werde laufen können.

Den schwarzen Gedanken davonlaufen

Mich nicht zu sehr von diesen Überlegungen herabziehen zu lassen, scheint nicht so gut zu funktionieren. Hinauf zum Steinberg, dem zweithöchsten Punkt des Laufs, gerate ich in ein richtiges Tief. Allein das Gehen den wilden Pfad hinauf strengt an. Meine Laune hellt sich erst am Gipfelkreuz auf. Für die nächsten Kilometer wird mir die Schwerkraft helfen. Es geht hinab zum Röderhof. Ich laufe dem Tief einfach davon.

Der Gipfel des Steinbergs im Tosmar

Geschenkt sind die Bergabkilometer allerdings auch nicht. Weiterhin muss man höllisch darauf achten, wo man den Fuß hinsetzt und wo das Gefälle zu groß ist, muss man bremsen. Dabei rutsche ich regelmäßig nach vorne im Schuh und inzwischen schmerzt es unangenehm an einem Fußnagel. Lässt man zu sehr laufen, ist das auch anstrengend. Und trotz allem fühlt es sich wie fliegen an. Dabei bin ich auf den Kilometern 53 und 54 nur knapp über einer sechser Pace.

Nach 54 km erreiche ich den Röderhof. Weil die Straße einen 90°-Knick aufweist, kann ich nach hinten blicken. Drei, vier Läufer sind hinter mir bereits aus dem Wald gekommen. Boah, echt jetzt!?! Ich hatte mich so schön mit mir selbst arrangiert, war stundenlang solo durch den Dauerregen gestapft und hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass noch jemand von hinten aufschließt. Aber was hatte ich gedacht? Alleine unterwegs zu sein? Tatsächlich stresst es mich ein wenig, weil ich dadurch einen leichten Druck spüre. Komisch, wo mir doch die Platzierung eigentlich egal ist. Irgendwas in mir mag es anscheinend nicht überholt zu werden.

Wo nur ist die Wunderbrühe?

Ein letztes Mal gebe ich meinen Namen am VP durch. Brühe? Ja, gerne! Im letzten Jahr hatte die Griesklöschensuppe eine magische Wirkung auf meine Stimmung. Zu meiner Enttäuschung enthält die Brühe heute Fleisch, wodurch ich genötigt bin auf Tee umzusteigen. Meinem Magen wird er gut tun. Zwei bekannte Gesichter erscheinen: Jörn und Steffi erreichen den VP, als ich im Aufbruch begriffen bin. Noch 14 km bis zum Ende.

Keine Wunderbrühe an VP 4 © Matthias Müller
Keine Wunderbrühe an VP 4 © Matthias Müller

Ein Bewohner der Einrichtung fragt, ob ich trainiere. Ja, sowas ähnliches, ich laufe eine kleine Runde, antworte ich schmunzelnd und freue mich, dass es weiterhin bergab geht. In Egenstedt hat die Herrlichkeit ein Ende. Es geht topfeben am Rande der Innerste entlang. Meine Beine schmerzen und es ist eine elende Mühsal auf dem aufgeweichten Boden vorwärts zu kommen. Der schwierige Teil für mich beginnt.

Drei Kilometer laufe ich, dann beginne ich damit kleine Passagen zu gehen. Mein Blick streift die Turmuhr der Wasserburg in Marienburg – 13:40 Uhr. Damit habe ich noch 80 Minuten für ungefähr neun Kilometer. Machbar, aber nicht, wenn ich weiterhin gehe.

Die Pferdewiese macht ernst

Jenseits des Flusses ist dann Jörn aufgelaufen. Er fragt mich, ob ich etwas brauche. Ich bin fertig, antworte ich, aber davon abgesehen brauche ich nichts. Eine Ziellinie würde ich nehmen und es fehlt nicht viel, dann würde ich auch eine Umarmung annehmen, aber diese Wünsche behalte ich für mich und äußere nur den: Mich unter acht Stunden ins Ziel zu würgen.

Gemeinsam betreten wir die berüchtigte Pferdewiese, schon in normalen Jahren ein sumpfiges Etwas, das einem erschöpften Läufer den letzten Nerv rauben kann. Erst bin ich vom guten Zustand überrascht, aber im hinteren Teil beginnt der Spaß. Satte zehn Minuten brauchen wir für Kilometer 61. Der Schlick ist so tief, dass meine Schuhe steckenzubleiben drohen. Wenn möglich, umgehen wir die ärgsten Stellen und klettern die Böschung hinauf. Die Überquerung der Pferdewiese beraubt mich meiner letzten Energiereserven.

Folglich kann ich kann Jörn und Steffi, die sich inzwischen zu uns gesellt hat, nicht mehr folgen. Ich bin wieder alleine unterwegs und habe schwere Minuten. Ich weiß, dass es nur noch einen Anstieg gibt, aber bis ins Ziel sind es immer noch sieben Kilometer. Mit den Worten „Ist da noch jemand leicht angeschossen?“, werde ich auf dem Weg hinauf zum Spitzhut nochmals überholt. Die Vermutung kann ich bestätigen. Ich bin nicht nur an- sondern so gut wie erschossen. Selbst auferlegte Pein. Jeder, der hier mitmacht, ist selber schuld!

Schwere Kilometer

Mein Wunschziel sehe ich mehr und mehr in weite Ferne rücken, das holt mich runter. Aber warum? Es geht mir primär ums ankommen und doch ist die Zeit ein Gradmesser, an dem man die eigene Leistung sofort ablesen kann. Auf einen Blick kann ich sagen, ob ich mich verbessert habe. Mich selbst zu übertreffen ist für mich die Essenz des Laufens.

Aber bildet das die Zeit überhaupt objektiv ab? Die Läufe von 2023 und 2024 lassen sich wegen der ganz unterschiedlichen Bedingungen gar nicht vergleichen. Die Umstände heute waren bedeutend schwieriger. Oder beginne ich bereits nach Rechtfertigen zu suchen? Der Wettkampfgedanke ist eine Seuche, die ich mir nicht gut austreiben kann.

Am Ausflugslokal – natürlich Brockenblick, was sonst? – wähne ich mich dann endlich auf dem Höhepunkt des letzten Anstiegs. Gerade als ich mich wieder zum Laufen überrede, geht es abermals hinauf. Verdammt! Daran kann mich nicht erinnern. Immer wieder muss ich kurz gehen. Es wirkt sich aus, dass ich seit über zwanzig Kilometern nichts mehr essen konnte.

Nach 65 km kommt die Energie zurück

Zwei Fahrradfahrer kommen an mir vorbei. Mountainbikes mit E-Motor, meine ich zu erkennen. Verständnislos für diese Art der Fortbewegung fluche ich ihnen leise hinterher. Meine Erschöpfung lässt meine Toleranz schwinden. Kurz darauf treffe ich einen der Fahrradfahrer wieder. Es sieht für mich aus, als filme er den umgestürzten Baum, der sich komplett über den Weg gelegt hat. Etwas näher sehe ich: Er hat ziemliche Schmerzen von einem Sturz und streckt sich. Ich biete Hilfe an und mache mich dann mangels Antwort an die Überwindung des Hindernisses.

65 km! Drei Kilometer bis zum Ziel und noch 24 Minuten auf der Uhr. Neuerlich wird der Wettkampfmodus in mir aktiviert. Dieses Mal hat es aber eine positive Wirkung. Mein Denken kehrt sich um und neue Kraft durchströmt mich. Es ist nicht so, dass ich Bäume ausreißen könnte, aber ich kneife ein letztes Mal die Arschbacken zusammen. Ich habe ein Ziel, ohne das ich den Rest der Strecke wahrscheinlich eher wandern würde. Der gestürzte Radfahrer und sein Begleiter überholen mich erneut. Ersterem geht ihm wohl wieder gut. Oder auch nicht. Eine Augenblicke später höre ich Schreie. Scheinbar ist er mit einem anderen Radfahrer kollidiert und wieder zu Boden gegangen, drei andere Radfahrer diskutieren.

Ich entscheide mich zum Weiterlaufen, es sind genug Helfer anwesend. 66 km. Das Rauschen der Autobahn wird immer lauter. Bedeutet: Ich nähere mich der Raststätte Hildesheimer Börde. Durch ein Tor gelange ich auf die Autobahnabfahrt. Knifflig, aber es ist gerade wenig Verkehr. 67 km! Nur noch ein kurzes Stück Straße, dann hinter der Autobahnbrücke in den Wald. Den kleinen Wall gehe ich hinauf und komme auch danach nicht wieder richtig in Gang. Gehend stolpere ich über eine Wurzel, kann mich aber gerade noch mit einem schnellen Ausfallschritt fangen. Ich falle praktisch in die Laufbewegung und bleibe dabei.

Phantomstimmen und ein einsamer Zieleinlauf

Ich habe nicht mehr die Uhr gecheckt, bin einfach gelaufen. Deswegen habe ich keine Ahnung wie viel Zeit mir noch bleibt. Ein umgefallener Baum ist Ausrede, um kurz zu gehen. Dann zeigt die Uhr: 400 m bis zum Ziel. Ich erkenne den Weg, den wir vor fast acht Stunden hinauf gelaufen sind und schieße ihn nun in umgekehrter Richtung hinab. Sind das Stimmen hinter mir? Das kann doch nicht sein, dass mich praktisch auf der Zielgerade noch jemand überholt. Gar kein Bock drauf! Unwillkürlich werde ich einen Schritt schneller.

Dann bin ich auf Höhe des Vereinsheims. Niemand ist zu sehen und auch hinter mir höre ich nichts. Ich biege um die Ecke und sehe den Zielbogen. Es wird ein einsamer Zieleinlauf. Nur Jörn, der gerade aus der Grillhütte kommt, registriert meine Ankunft. Ich stoppe die Zeit und breite in einer fragenden Geste die Arme aus. Michael ist gerade in der Hütte, sagt Jörn. „Hast du dir deine Zeit gemerkt?“ Äh, nee! Aber wenn ein Reflex bei mir funktioniert, dann ist es das Drücken der Stopptaste, wenn ich eine Ziellinie überquere. 7:57:45 Std.!

Ein verlassenes Ziel © Matthias Müller
Ein verlassenes Ziel © Matthias Müller

Jetzt ist auch der auf Zahlen fixierte Teil in mir befriedigt. Der andere Teil ist es schon lange. Das war ein überragender Lauf für mich, der SuMeMa ist es sowieso. Ich melde meine Ankunft im Ziel und unterhalte mich kurz mit Michael, dann muss ich dringend trockene Sachen anziehen, ehe ich mich an die Rückfahrt mache. Für mich ist es eine gute Gelegenheit darüber nachzudenken, was diesen Lauf so besonders macht.

Sich 68 km durch Matsch und Schlamm zu kämpfen, fast 2.000 Höhenmeter zu überwinden – das klingt nicht unbedingt nach Spaß. Aber genau das mag ich. Es ist gerade hier im flachen Norddeutschland eine Herausforderung, die ihresgleichen sucht. Das wissen natürlich auch die Mathias, Mel und Michael, die uns mit viel Vergnügen durch ordentlich Matsch jagten und ordentlich leiden ließen. Je härter desto besser. Da steckt Herzblut drin, in jedem der verdammten 68.000 Meter.

Wer da nicht mitmacht, ist selber schuld.

Der Lauf im Überblick

Distanz67,9 km (42,195 Meilen)
Zeit7:57:45 Std. / 7:02 min/km
Platzierung8. von 60 Teilnehmern
AK-Platzierung3. von 5 (M40)
StreckeEine nahezu 70 km lange Runde durch das Hildesheimer Land mit vielen, vielen Anstiegen, fiesen Trails, Matsch und Dornen.
Manchmal findet man Wegweiser, verlassen würde ich mich darauf nicht. Der Track auf der Uhr ist dringend zu empfehlen.
An einigen kritischen Punkten gibt es Wegweiser oder Bänder. Als "Beweis", die gesamte Strecke gelaufen zu sein, ist zwischendurch eine Marke aufzusammeln.
BesonderheitenFür den Lauf ist kein Startgeld zu entrichten, sondern eine Spende für die Wohneinrichtung Röderhof.
Der Beutel, den man als Lohn der Mühen erhält, ist so gut gefüllt wie bei keinem andern Lauf, an dem ich je teilgenommen habe.
Die Atmosphäre und der Geist des Laufs sind einzigartig. Eine klare und unbedingte Empfehlung

Der Lauf im Vergleich

VeranstaltungDatumZielzeitPaceDifferenz zur Bestzeit
8. SuMeMa06.01.202407:57:457:02/km
7. SuMeMa07.01.202308:01:417:06/km00:03:56

6 Comments on “8. SuMeMa – Wer da mitmacht, ist selber schuld

  1. Moin Karsten, jetzt mal ganz offiziell ein dickes Danke für deine Berichte. Dein Leiden beim 1. Sumema hat mein Leiden bestimmt reduziert – weil ich etwa erahnen konnte, was mich erwartet. Mein Bericht folgt und ich verlinke zur detaillierten Streckenbeschreibung auf dich 🙂
    Liebe Grüße und bis zum nächsten Abenteuer, Anke

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