Als ich mich auf einen Stuhl am zweiten Verpflegungspunkt setze, wühle ich nur noch pro Forma in meinem Dropbag. Die Zweifel in mir sind nach den ersten harten 32 km schon so groß, dass nur noch ein Rest Hoffnung auf ein Finnish beim 7. SuMeMa in mir glimmt. SuMeMa ist ein Akronym für Südkreis Meilenmarathon. Es handelt sich also um einen Ultralauf über 42,195 Meilen, die im südlichen Landkreis von Hildesheim zu bewältigen sind. Das bedeutet auch, dass ich noch fast 40 Kilometer vor der Brust habe. Rosige Aussichten.
Ich mache gute Mine zur schlechten inneren Stimmung und scherze mit den Helfern, schieße ein Bild vom unfassbar guten Büffet, das zum verweilen einlädt. Ich trinke meine Dose Cola, das mitgebrachte Marmeladenbrot lasse ich im Beutel, ich habe schon jetzt Probleme mit dem Essen. Auch die meisten Gummis und Gels lasse ich, wo sie sind. Ich schreibe schnell eine Nachricht nach Hause: „Ist richtig hart. Bin am zweiten VP bei 32 km. Es geht nur hoch und runter.“ Es ist die Kurzfassung davon, dass ich von der Art dieses Ultralaufs in vielerlei Hinsicht überrascht worden bin.
Neben mir zieht Claas sich um. Nach ungefähr 22 km hat er ein unfreiwilliges Schlammbad genommen, wo die schweren Fahrzeuge aus dem naheliegenden Steinbruch Wesseln den sowieso schon weichen Boden in eine morastige Lehmkuhle verwandelt hatten. Gut, dass er vorausschauend Wechselsachen in seinem Beutel deponiert hat. Ganz augenscheinlich hatte Claas mehr Ahnung davon, auf was er sich einlässt. Im Gegensatz zu mir. Drei Stunden hatte die Erkenntnis von meiner Ahnungslosigkeit Zeit zu reifen.
Die Zweifel beginnen mit dem ersten Kilometer
Schon der erste Kilometer warf Fragen bezüglich meiner Schuhwahl auf. Kurzfristig hatte ich mich gegen meine neuen Trailschuhe zugunsten bewährter Treter entschieden. Ergebnis: Ich suchte bereits am ersten Hang nach vernünftigem Halt. Immer wieder rutschte ich weg. Aber vielleicht würde der Weg ja besser werden, versuchte ich mir da noch einzureden.
Ich wunderte mich, dass das Feld derart locker loslief, während ich darauf brannte loszulegen. Das hatte zur Folge, dass ich gleich mehrmals falsch abbog, nachdem der Führende (und spätere Gewinner) außer Sicht war. Gerade, als mich der Abschnitt zwischen Kilometer vier und sechs darauf hoffen ließ, dass jetzt gut laufbares Terrain wartete, ging es jäh über einen Trampelpfad eine Böschung hinauf. Einmal mehr hatte ich den Abzweig gar nicht wahrgenommen, nicht einmal damit gerechnet, dass es hier einen hätte geben können. Zumal mich die in der Ferne glitzernden Lichter von Hildesheim und der darüber scheinende Vollmond komplett in ihren Bann gezogen hatten. Ein Ruf, der hinter mir liegenden Läuferin, weckte ich mich aus meiner Träumerei und bewahrte mich vor einem größeren Umweg.
Der Weg hinan zur Kreuzbergkapelle, musste mehr erfühlt werden, als das er erkennbar gewesen wäre. Ein Licht am oberen Ende, ließ zumindest erahnen, wo man hin sollte. Es war Matthias‘ Stirnlampe, einem der drei Organisatoren des Laufs, der uns mit seiner Kamera ablichtete. Trotz seines Hinweises auf den richtigen Weg, brauchte ich, bis ich endlich das Flatterband im Licht meiner eigenen Lampe das tun sah, was ihm seinen Namen gibt: flattern. Dann ein kaum als solcher auszumachender Trampelpfad vorbei entlang eines Maschendrahtzauns. Mir dämmerte langsam: Das war ein echter Ultratrail, nicht nur dem Namen nach.
Mit dem Tageslicht kommt das Hochgefühl
Dämmern war aber überhaupt ein gutes Stichwort. Weil ich mich jetzt fast exakt nach Osten bewegte, färbte sich der Morgenhimmel in Blickrichtung mit jeder Minute in kraftvollerem Rot. Ein beeindruckender Sonnenaufgang kündigte sich an. Und weil der Weg in diesem Moment nicht meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, hatte ich Muße, das Schauspiel auf mich wirken zu lassen. Es sind genau diese Momente, die mich nach draußen treiben.
Einen kleinen Sturz später fand ich mich an einem etwa zweieinhalb Meter hohen Abhang wieder, ratlos, wie ich diesen überwinden sollte. Ich entschied mich für eine kontrollierte Rutschpartie, tief hingehockt, um nicht zu stürzen. Danach zur Belohnung ein Kilometer Forstweg, gefolgt von einer verlassenen Kreisstraße. Mein Trugschluss: Ab jetzt würde es bestimmt laufbarer werden. Ich war so überzeugt davon, dass ich gleich die nächste Abzweigung verpasste und abermals durch einen Ruf meiner Hoffnung auf ein paar einfache Kilometer auf der Landstraße beraubt wurde.
Es ging wieder hinauf, nicht weit und auf einem breiten Forstweg, alles halb so wild also. Zugleich kam die Sonne immer weiter raus, sodass es Zeit wurde, die Stirnlampe einzupacken. Im ersten Tageslicht gab es viel zu sehen: Nach der alten Brennerei in Astenbeck überquerte ich die Innerste, dann führte der Streckenverlauf über den Laves-Kulturpfad. Über dem Marienteich reflektierten die Wolken die Morgensonne in den schönsten Farben. Herrlich! Mir stand der Sinn nach Fotos.
Irrungen und Wirkungen
Den ersten VP am ehemaligen Kloster erreichte ich um 8:26 Uhr. Zeit eintragen war Pflicht, weil es keine elektronische Zeitmessung gab. Mit einem Becher Cola intus ging es weiter entlang der Sehenswürdigkeiten des Kulturpfades: Zunächst Teetempel, dann das pyramidenförmige Mausoleum des Grafen Ernst zu Münster, daneben markante Felsformationen. Alles sehr schön, alles sehr verwirrend. Das alles war mir neu und unbekannt und mein Staunen nicht hilfreich für die Wegfindung. Meine Uhr reagierte mitunter etwas träge und ehe sie sich ausgerichtet hatte, musste ich mich schon für eine Richtung entscheiden. Nicht immer mit dem richtigen Ergebnis.
Der Punkt war gekommen, mich einer größeren Gruppe anzuschließen. Zu fünft fand sich der Weg einfacher. Es war beruhigend, dass auch die anderen mit der Orientierung kämpften. Die endgültig aufgegangenen Sonne tauchte den Wald in goldenes Licht, die Bedingungen für das Laufen waren ideal. Wäre nur der Regen der vergangenen Tage nicht gewesen. Erstmals wurde das so richtig spürbar, als wir nach gut 20 Kilometern die Sauberge erreichten. Der Kammweg war so schmal wie er seifig war und endete in einem Abstieg, so steil und glitschig, dass an Laufen nicht zu denken war. Vorsichtig trippelte unsere nur noch dreiköpfige Gruppe den Abhang hinab, bedacht darauf, keine Bauchlandung hinzulegen. Es war der Zeitpunkt, die anderen mit meiner Schuhwahl zu amüsieren, die Max – einer meiner zwei Begleiter – zu dem für mich beschämenden Satz verleitete: „Jeder, der sich hier angemeldet hat, wusste ja, worauf er sich einlässt.“
Ich nicht! Und das gab ich mit einem – wie ich hoffte – nicht allzu peinlich berührtem Lachen zurück. Ich Dämlack hatte mir eingebildet, dass ich mich auf diesen Lauf akribisch vorbereitet hatte, Ernährungsstrategie inklusive. Max hakte nach, ob ich denn nicht gelesen hätte, dass das ein Traillauf sei. Natürlich! Aber wie viele Ultraläufe trugen das gleiche Attribut und waren dann doch durchweg gut zu laufen? Da musste er mir recht geben.
Worauf hatte ich ich da eingelassen?
Nun zahlte ich Lehrgeld mit jedem Schritt und tritt. Wenigstens blieb mir die Bauchlandung erspart, die kurz darauf Claas – zweiter Begleiter in unserem Trio – vorbehalten war. Das hätte mich wahrscheinlich vollends demoralisiert. Ohne Wechselkleidung, reichlich verdreckt und als schlecht vorbereitet enttarnt. Immerhin war ich noch ganz gut beisammen, führte unsere Dreigruppe an und gleich mal in die Irre. Ich hatte den Charakter des Laufs noch immer nicht stark genug verinnerlicht. Ich war dem offensichtlichen Weg gefolgt, anstatt nach einem echten Trail Ausschau zu halten.
Eine Bundesstraße später schaltete ich das erste Mal bewusst auf Gehen um. Ein altes Flatterband hatte mich einmal mehr für ein paar Meter auf die falsche Fährte gelockt – zum wievielten Mal eigentlich hatte ich mich verhaspelt? -, auch weil die Hoffnung auf einen abwärts führenden Weg mich magisch anzog. Stattdessen mussten wir hinauf, die Steigungen teils zweistellig. Für mich und auch die anderen zu viel, um sie zu laufen. Es wäre reine Vergeudung von Reserven, die später noch gebraucht würden.
Überhaupt fühlte ich mich nicht mehr so frisch. Zweifel begannen an mir zu nagen. Wie sollte ich das noch weitere 40 km überstehen? Gleich würden wir den zweiten VP erreichen und ich hätte Gelegenheit, meine noch viel zu gut gefüllten Vorräte aufzustocken. Ich hatte weit weniger zu mir genommen als geplant, lag hinter dem, was ich mir vorgenommen hatte. Wenigstens hatte ich regelmäßig getrunken. Das Essen fiel mir schwer und die neuen Gels – gewöhnungsbedürftig. Ich hätte auf Vertrautes setzen sollen, nächste Fehler. Trotz des Gefälles ging es mir nicht so gut, wie es mir nach 30 km hätten gehen sollen, das war schon viel zu mühsam. Auf den zwei verbleibenden Kilometern bis zum VP hatten die ersten zaghaften Gedanken an ein vorzeitiges Aussteigen reichlich Zeit sich zu einem handfesten Wunsch zu entwickeln.
Zurück im Jetzt
Zurück ins Jetzt. Trotz nagender Zweifel setze ich die Reise fort. In Bewegung bleiben, weitermachen, auf irgendwas hoffen. Über die Lamme, eine Bundesstraße und eine Eisenbahntrasse verlasse ich den Ort durchs Maiental. Es wartet der Griesberg. Nichts, was meine Laune hebt oder meine Zuversicht vergrößert. Es ist der höchste Punkt des Ultralaufs. Klar, es ist nur eine knapp 360 m hohe Erhebung, aber die will auch erst einmal erklommen werden. Bis zum Ende der Straße laufe ich, im Angesicht des Trails wechsle ich zum Gehen. Der Regen der vergangenen Tage hat ganze Arbeit geleistet.
Durch den Morast wate ich, laufen ist nur partiell möglich. Ich mache weiter, auch wenn eine innere Stimme meint, ich könne es bleiben lassen. Nach und nach schließen Läufer zu mir auf, darunter Jörn, der mich herzlich begrüßt und an meiner Seite bleibt. Seine positive Art holt mich Stück für Stück aus meinem Tief. Er muntert mich auf, merkt wohl, dass ich ich mental nicht auf der Höhe bin: „Komm, Karsten, wir holen uns hier heute das Ding.“ Es hilft und klingt gleichzeitig wie Hohn. Ein Finish ist für mich in diesem Moment so weit weg, dass es unvorstellbar ist.
Wir bleiben für eine Weile beisammen, laufen, wo es geht und gehen die Anstiege. Unsere Wege haben sich zufällig bei meinen letzten Wettkämpfe gekreuzt, bei der Sollingquerung und dem Schloss Marienburg Marathon. Je näher der nun schon deutlich erkennbare Fernmeldeturm von Sibbesse rückt, desto kleiner wird die Distanz zum nächsten VP. Nur noch fünf Kilometer sind es, stelle ich überrascht fest. Ich bin auf einem guten Weg, das umzusetzen, was ich meiner Frau geschrieben habe: Den nächsten VP erreichen.
Die Hoffnung lebt
Fünf Kilometer noch? Das macht was mit meinem Denken, den VP nach 42 km zu erreichen, kann ich mir vorstellen. Trotzdem habe ich im Kopf Probleme. Bis zu einem gewissen Punkt hängt es mit meinem Anspruch an mich zusammen, jede Strecke laufen zu wollen. Das hat, so vermute ich, mit meinen ersten Marathon-Erfahrungen zu tun. Buchstäblich jahrelang nagte an mir, dass sie mit relativ langen Spaziergängen endeten. Das ist passé, aber die Probleme mit dem Gehen sind geblieben. Aktuell bin ich ganz sicher nicht in der Lage alles zu laufen, was es hier an Anstiegen und sonstigen Schweinereien gibt. Daher tut es gut, auch andere gehen zu sehen, nicht alle so viel wie ich, aber fast ausnahmslos jeder muss mal gehen. Ich muss dringend daran arbeiten, den Straßenläufer auf der Straße zu lassen und Ultraläufe auch mit der Einstellung eines Ultraläufers anzugehen.
Noch vor dem Fernmeldeturm überholt mich wieder eine kleine Gruppe, Jörn ist auch schon ein Stück voraus. Insgeheim glaube ich, dass mich jetzt alle abhängen. Das zieht mich wieder etwas nach unten. Soll ich mir überhaupt den Nachweis für den Abstecher zum Fernmeldeturm aus dem am Zaun gebundenen Beutel nehmen? Ohne Nachweis kassiere ich ein DNF, was mir derzeit sowieso als der wahrscheinlichste Ausgang des Laufs vorkommt. Den Nachweis werde ich vermutlich nicht brauchen, das Ziel ist noch immer 30 Kilometer entfernt. Hoffnung ist eine gute Sache und lässt mich die kleine Baumscheibe sicher in einer Tasche meiner Laufweste verstauen. Weitermachen!
Zurück im Schutz der Gruppe
Es geht zurück auf dem Pfad, den wir gerade gekommen sind und als ich am Gipfelkreuz vorbeikomme, mache ich spontan eine Fotopause. Bedeutungslos sind die Sekunden, die ich dafür brauche. Auf dem steilen Abhang vom Griesberg ist oberste Vorsicht geboten. Hinauf zum Bosenberg rücke ich wieder näher an Jörn und ein paar andere Läufer heran. Gemeinsam geht es auf breiten Forstwegen drei Kilometer abwärts in Richtung VP3. Es ist die längste zusammenhängende Strecke, die ich seit VP 2 laufe. Eigentlich könnte ich hier so richtig schön rollen lassen, wäre da nicht eine problematische Kleinigkeit: An beiden Füßen schmerzt bereits ein Fußnagel heftig, wenn ich auf Gefällestrecken bei jedem Schritt nach vorne rutsche im Schuh.
Schmerz hin oder her, ich spüre, wie meine Gedanken heller werden. Mich zum nächsten VP vorgearbeitet zu haben, mit anderen Läufern unterwegs zu sein, zu laufen, lassen mich glauben, das tiefste Tief hinter mir zu haben. Genau das möchte ich meiner Frau mitteilen. Dagegen spricht, dass ich meinen Zustand nicht dadurch gefährden will, dass ich anhalte und eine SMS schreibe.
Unter etwas Applaus trudeln wir nach fast 43 km am VP ein. Es ist eine dezentrale Wohneinrichtung der Heimstatt Röderhof, die Angebote für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen macht und für die der heutige Lauf veranstaltet wird. Noch immer kann ich nicht gut essen, komme aber nicht am Knoppers vorbei. Kurz noch etwas trinken und weiter geht es. Max und Claas – deren Namen ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht kenne – sind kurz vor mir wieder auf die Strecke gegangen und ich muss schleunigst los, um dranzubleiben.
Langsam schrumpft die Distanz zum Ziel
Ich hänge mich an die Beiden, was zur Folge hat, dass wir gleich mal von der Route abkommen. Durch Claas´ Ortskenntnis nehmen wir eine alternative Route um die Kurklinik und sind zurück auf dem offiziellen Track. Mental bin ich so weit wiederhergestellt, dass ich mir vorgenommen habe, mindestens bis zum 45. Kilometer zu laufen. Wären da nicht die Eigenheiten der Strecke. Kurz bevor ich 44 km auf der Uhr habe, geht es querfeldein einen Hang hoch. Da ist mit Laufen Essig. Auch danach gibt das Gelände es nicht her, mit meinen müden Beinen große zusammenhängende Strecken zu laufen.
Ich richte meinen Rhythmus beim Wechsel zwischen Laufen und Gehen an Max aus, mache es ihm gleich. Derweil ist Claas ein Stück vorausgelaufen. Auf einem Singletrail umrunden wir einen Segelflugplatz, der Trail ist abermals so schlüpfrig, dass ich mehrmals ausgleite, mich aber immer wieder fangen kann. Für die entgegenkommenden E-Bikes, müssen wir uns in die Büsche drücken. Dann kommt uns Claas entgegen. Er hat kurzfristig die Peilung verloren und versucht, die vor uns liegende Gaststätte an der falschen Seite zu umlaufen.
Einen kleinen Rückschlag muss ich verdauen, als wir die zurückgelegte Distanz vergleichen und ich feststelle, dass ich im Kopf schon einen Kilometer weiter bin bei 49. Ich hatte die Uhr für eine Weile nicht gecheckt. Doch auch das geht vorbei. Kurzfristig lässt sich dann wieder gut laufen, bis die nächste lange Steigung wartet. Es ist die einer der längsten des Ultralaufs, doch wo es geht, laufe ich auch hier. Offenbar steckt noch Leben in meinen Beinen. Weil Claas sogar noch mehr Körner hat und vorläuft, Max zurückbleibt und ich in der Mitte der beiden trotte, löst sich unser Dreibund kurze Zeit auf.
Merke: Der einfache Weg ist nie der richtige
Unvermittelt meldet die Uhr eine Streckenabweichung. Auch Claas hat den Abzweig verpasst. Faktisch ist da nichts zu sehen gewesen. Ich winke Claas und schlage mich ungefähr in der Richtung in die Büsche, die meine Uhr andeutet und kämpfe mich nach oben. Stimmen deuten an, dass ich mich dem richtigen Track nähere, auf den Claas und Max weiter unten gestoßen sind. Mit einem letzten Gruß der Brombeeren, die mir den Oberschenkel blutig kratzen, breche ich durchs Dickicht auf den Trampelpfad. Unser Trio ist wieder vereint.
Der Anstieg indes ist so steil, dass allein durch das bergan Gehen Schweißtropfen auf meinem Gesicht entstehen. Gleichzeitig bekomme ich ein beißendes Hungergefühl. Das hat sich nicht im Geringsten angekündigt. Aber wen wundert es? Ich habe seit VP 3 auf weitere Verpflegung verzichtet und muss derzeit schon weit, weit hinter meinem Ernährungsplan zurückliegen. Schnell werfe ich mir eines der neuen Gummis in den Mund und kippe ein Flüssiggel nach. Alles nicht lecker, doch mein gereizter Magen akzeptiert beides mit leichtem Widerwillen.
Als ich den Hang überwunden habe, orientiere ich mich und Claas schließt zu mir auf. Scherzhaft deute ich auf einen weiteren Trampelpfad, der nochmals nach oben führt. Lt. Höhenprofil sollte es jetzt bis zum nächsten VP abwärts gehen und ich gehe davon aus, dass wir einen der Forstwege nehmen müssen, bis Claas meinen Scherz bestätigt. Ja, da müssen wir hoch. Mit einem leicht verzweifelten Lachen erwidere ich, dass mich das nicht wundert. Nach beinahe sechs Stunden sollte ich den Charakter des Laufs endlich verinnerlicht haben.
Die Wunderbrühe
Nächster Stopp: Das Gipfelkreuz auf dem Steinberg, immerhin noch ca. 320 m hoch. Den geringen Gipfelhöhen zum Trotz, habe ich inzwischen mehr Höhenmeter gesammelt als beim Brocken-Marathon. Kleinvieh macht eben auch Mist oder die Dosis das Gift. Wir verweilen kurz, um den Ausblick zu genießen. Je länger der Lauf dauert, desto weniger gehetzt bin ich. Langsam transformiere ich mich anscheinend doch noch zum Ultraläufer. Claas schießt ein Bild von mir und erzählt ein paar Dinge über den Berg. Erst jetzt frage ich ihn nach seinem Namen. Es ist eigentlich kaum zu glauben, weil wir schon über so lange Zeit mehr oder weniger gemeinsam laufen. Jetzt schließt auch Max zu uns auf. Seinen Namen erfahre ich sogar erst nach dem Lauf.
Ein weiterer Läufer holt uns ein und zu viert machen wir uns an den Abstieg. Der Trail ist laufbar, die Schmerzen in meinen Zehennägeln halten an. Als Trio – der vierte Läufer hat uns abgehängt – kommen wir nach 55 km auf das Gelände der Heimstatt Röderhof. Einige Kinder erwarten uns im Innenhof der Einrichtung, weitere Kinder klopfen enthusiastisch von innen an die Fenster und bescheren mir eine Gänsehaut. Wir winken und lächeln, ich fühle mich jetzt schon wie ein Sieger. Die Begeisterung der Kinder ist ansteckend. Eines ruft, dass es laufen möchte. Ich erwarte eigentlich, dass die Kinder mit uns um die Wette rennen, aber dazu kommt es nicht. In unserem Zustand hätten wir ziemlich sicher nicht den Hauch einer Chance.
Wir lassen uns zum letzten VP dirigieren, registrieren uns und ich scanne die Auslage. Mir wird eine Brühe angeboten, die tatsächlich vegetarisch ist. Nach der ersten Tasse, bin ich so begeistert, dass ich noch einmal nachlege. Sie schmeckt himmlisch, ist genau das, worauf ich jetzt Bock habe. Während ich glücklich mit meiner zweiten Tasse beschäftigt bin, brechen Max und Claas schon auf, andere Läufer trudeln ein. Schleunigst mache auch ich mich auf die letzten 14 – 15 km – so genau weiß ich es nicht nach den diversen Umwegen.
Der Läufer in mir kommt zurück
Nach einigen hundert Metern habe ich den Anschluss wiedergefunden. Gut, ich möchte nicht alleine laufen, mich nicht zu viel mit meinen Gedanken befassen und vielleicht in eine Abwärtsspirale kommen. Momentan geht es mir gut und ich kann mir tatsächlich vorstellen, bis ins Ziel kommen. Das ist eine entscheidende Änderung meiner mentalen Sicht. Doch es ist immer noch ein ernstzunehmendes Stück bis zum Ziel, da kann noch viel passieren.
Das Gefälle trägt uns bis nach Egenstedt, wo der tiefste Punkt des Laufs liegt. Entlang der Innerste nähern wir uns Kilometer für Kilometer Hildesheim. Ich denke nur noch in dieser einen Kategorie: „Nächster Kilometer“. Unser Tempo ist nicht hoch, liegt zwischen 6 min und 6:30 min/km, aber es ist für mich selbst überraschend genug, dass ich laufe. Nicht mühelos, nein, das ganz sicherlich nicht, aber ich laufe! Dann erkenne ich, dass ich hier schon einmal laufen war. Ich teile es den anderen mit, behalte den Anlass aber für mich. Es war am Morgen nach meiner Hochzeit, als ich hier einen langen Lauf absolvierte, während meine Frau noch im Hotel schlief. Läufer zu jeder Zeit.
Sowohl Claas als auch Max haben schon an diesem Lauf teilgenommen und wissen, was kommt. Nach 61 km wartet die Pferdewiese, die einen gewissen Kultcharakter hat, weil sie bei einer besonders matschigen Auflage des SuMeMa einer Moorlandschaft glich. Der Zustand heute ist ok, eher die Wege davor und danach sind einigermaßen schwierig weil schlammig. Noch eine Böschung müssen wir überwinden, dann wartet die Stadt. Wir sind im südlichen Hildesheim, in Itzum. Drei Läufer haben uns seit dem VP überholt, aber insgesamt ist wenig Bewegung. Die Läufer hinter uns haben den gleichen Gang eingelegt.
Nur nicht abreißen lassen
63 km! Weiter bin ich noch nie gelaufen, jeder Kilometer ist jetzt Neuland. Seit VP 4 sind wir fast acht Kilometer durchgehend gelaufen. Dass das noch in mir steckt, hätte ich nicht gedacht, doch nun brauche ich eine Auszeit. Ich hatte damit bis zum letzten ernstlichen Anstieg warten wollen, verfalle aber schon 500 m früher ins Gehen, während die anderen vorauslaufen. Das ist nicht gut, dämmert es mir, gar nicht gut.
Als ich sehe, dass sie am Fuße des Anstiegs angekommen sind und ebenfalls gehen, laufe ich ihnen nach, um den Abstand zu verkleinern. Der Anstieg ist die Gelegenheit, wieder aufzuschließen und die restliche Strecke gemeinsam zu Ende bringen. Erst auf dem Scheitelpunkt des Anstiegs habe ich die Lücke geschlossen. Die Frage nach meinem Befinden, kann ich nur ehrlich beantworten. Ich habe zu tun und die Jungs haben nun ein Auge auf mich. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn. Das Gelände ist glücklicherweise leicht abschüssig mit nur kleinen Hügeln, das kann ich laufen und so bleiben wir bis Kilometer 68 in Bewegung.
Langsam dämmert es schon wieder. Zumindest ist mein Eindruck hier im Wald so, faktisch ist es erst 15 Uhr und die Dämmerung noch ein paar Minuten entfernt. Es ist nichtsdestotrotz schummrig und ich muss an die Worte aus dem Briefing denken, dass es sich empfiehlt, auch für abends eine Lampe am Start zu haben, weil es da schon wieder recht dunkel wird im Wald. Als ich das las, wähnte ich mich um die fragliche Zeit schon im Ziel. Apropos Ziel: 68 km habe ich inzwischen auf der Uhr, eigentlich sollte das genügen. Ich wäre so weit! Aber wen wundert es, dass ich noch weiter muss bei all den kleinen Umwegen?
Der ultimative Kilometer
Wir haben die Raststätte Hildesheimer Börde erreicht und müssen die gleiche Ausfahrt nehmen, die ich vor Stunden auch mit dem Auto entlangfahren bin. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich eine Vorstellung davon habe, wie weit es noch bis zum Ziel ist. Ich verfalle wieder ins Gehen. Claas und Max tun es mir ein Stück die Straße runter gleich, entweder nehmen sie Rücksicht oder schonen sich auch. Hinter der Autobahnbrücke weist ein Schild auf die letzten 1.000 Meter hin und führt uns ein letztes Mal in den Wald. Sobald die Böschung hinter uns liegt, laufen wir wieder und dann schießt Claas plötzlich los wie von der Tarantel gestochen.
Er hat ein Auge auf die 8-Stunden-Marke geworfen und die scheint mit einem beherzten Sprint die letzten 500 m den Hang hinab noch erreichbar zu sein. Max lässt ihn laufen und ich bummle am Ende hinterher, bin froh überhaupt noch zu laufen, unendlich erleichtert, das Ziel zu sehen. Etwas, dass ich mir fünf Stunde nicht vorstellen konnte. Ich war sicher, hier heute nicht anzukommen, aber jetzt ist das Ziel wahrhaftig nur einen Steinwurf entfernt. Dann reiße ich die Arme in die Höhe, Jubelpose. Zum Teil, für die Frau, die Fotos schießt, aber auch von Herzen. Ein bisschen Selbstironie schwingt irgendwie mit, weil ich das Gefühl habe, als einer der Letzten angekommen zu sein. Eine gänzlich falsche Einschätzung, wie sich zeigen wird.
Durchs Ziel, Uhr stoppen, abklatschen. Ich werde nach meinem Namen gefragt und nach der kleinen Baumscheibe. An die hatte ich stundenlang nicht gedacht! Gut, dass ich sie doch mitgenommen habe, obwohl es mir sinnlos erschien.
Nachlese
Nach dem Finnish wartet noch eine kleine Aufgabe auf mich, die ich seit heute Morgen vertagt habe und während des Laufens erfolgreich verdrängen konnte. Ich muss meinen Bus noch aus dem Acker bekommen. Ich habe mich ein wenig um die Abfahrt herumgedrückt und dann doch feststellen müssen, dass ich mich hoffnungslos festgefahren habe, wie ich beim Einparken vor Stunden bereits ahnte. Der Versuch, etwas unter die Reifen zu schieben, scheitert. Ein Läufer sieht meine vergebene Mühe und meint, ich solle auf Micha warten, der könne mich sicherlich mit seinem Pickup herausholen. Micha ist einer der Veranstalter, aber aktuell noch auf der Strecke. Derweil hat mich der Besitzer des Feldes als Übeltäter ausgemacht und ich beschwichtige ihn.
Am Ende ist es gut, dass ich noch etwas warten muss. Ich habe Zeit für eine Portion Pommes, den ein oder anderen Plausch und viel schlimmer: Ich wäre ohne Urkunde, Medaille und die anderen Kleinigkeiten nach Hause gefahren, wenn ich nicht festgesteckt hätte! Es ist gigantisch, was im Finisher-Beutel alles steckt. Auch ein anderer Teilnehmer steckt fest, kann aber mit vereinten Kräften vom Acker befördert werden. Das ist bei meinem Bus eine andere Nummer. Aber als Michael schließlich eintrudelt, leisten er und einige Läufer ganze Arbeit und befreien mich aus der misslichen Lage. Es ist schade, dass ich schon los muss.
Erst als ich im Auto sitze, Musik höre, beginnen meine Gedanken zu kreisen, Bilder schießen mir in den Kopf. Langsam sickert in mein Bewusstsein, was ich heute geschafft habe und wie geil dieser Lauf eigentlich war. Nach 30 km bereit zum Aufgeben zu sein und doch anzukommen. Nie bin ich weiter gelaufen, nie war ich länger unterwegs gewesen, habe niemals mehr Höhenmeter gesammelt. Eigentlich müsste ich sagen: Nie wieder. Stattdessen denke ich: Wohin geht’s als nächstes und wann ist der SuMeMa eigentlich im nächsten Jahr?
Der Lauf im Überblick
Distanz | 67,9 km (42,195 Meilen) |
Zeit | 8:01:41 Std. / 7:06 min/km |
Platzierung | 14. von 60 Teilnehmern |
AK-Platzierung | 4. von 9 (M40) |
Strecke | Eine nahezu 70 km lange Runde durch das Hildesheimer Land mit vielen, vielen Anstiegen, fiesen Trails, Matsch und Dornen. Manchmal findet man Wegweiser, verlassen würde ich mich darauf nicht. Der Track auf der Uhr ist dringend zu empfehlen. Es gibt keine Absperrungen oder weitere Beschilderungen. Als "Beweis", die gesamte Strecke gelaufen zu sein, ist zwischendurch eine Marke aufzusammeln. |
Besonderheiten | Kein Startgeld, dafür ist eine Spende für den Röderhof zu entrichten. Der Beutel, den man als Lohn der Mühen erhält, ist reichlich gefüllt. Ein Highlight für mich war die Suppe am letzten VP! |
Der Lauf im Vergleich
Veranstaltung | Datum | Zielzeit | Pace | Differenz zur Bestzeit |
8. SuMeMa | 06.01.2024 | 07:57:45 | 7:02/km | |
7. SuMeMa | 07.01.2023 | 08:01:41 | 7:06/km | 00:03:56 |
Herzlichen Glückwunsch nochmal zu deinem Finish
Dein Kämpfergeist hat sich bezahlt gemacht und zudem noch eine Klasse Zeit raus gehauen.
Vielen Dank für diesen erstklassigen Blogbeitrag.
Wir freuen uns auf dein Wiedersehen beim 08. SuMeMa am 06.01.2024
LG vom Suedkreis Ultrateam
Danke dir! Es hat einfach sehr, sehr viel Spaß gemacht. Gerade auch wegen der Schinderei!
Hi Karsten, das ist ein richtig toller Bericht und ich würde ihn gern auf der SuMeMa Seite verlinken wenn ich darf. Liebe Grüße Michael
Hi Michael, habe jetzt erst deinen Kommentar gesehen. Natürlich gerne.