Die Tapering-Phase hat begonnen: Erholung steht auf dem Programm, um am kommenden Sonntag möglichst ausgeruht und im Vollbesitz meiner Kräfte an den Start zu gehen. Die Läufe, die ich jetzt noch absolviere, haben weniger einen Trainingseffekt als einen psychologischen Charakter. Ich soll nicht einrosten und in Bewegung bleiben. Sonntag dann werde ich erstmals einigermaßen ausgeruht sein seit Wochen und die Theorie besagt, dass das einen entscheidenden Unterschied macht. Ich müsste dann in der Lage sein, das Tempo hochzuhalten und auch noch die sechs Kilometer durchzuhalten, die im Training bis zur vollen Marathondistanz gefehlt haben.
In der Theorie klingt das logisch. In der Praxis ist das bei mir schon ein paar mal schiefgegangen. Immerhin: 2015 hat es fast geklappt, aber ab Kilometer 35 wurde es ab doch ein ziemliches Gewürge. Konstant durchlaufen konnte ich damals nicht und bin auf den letzten Kilometern eingebrochen, sogar ziemlich. Trotzdem hatte ich meine Wunschzeit unterboten, weil ich zuvor im Rennen eifrig Sekunde um Sekunde „Vorsprung“ herausgelaufen hatte. Ich war praktisch permanent schneller gelaufen als geplant und träumte zwischenzeitlich schon von einer Zeit unter 3:20 Std. Die Quittung bekam ich dann später.
Die richtige Marathon-Taktik
Das Herauslaufen eines Vorsprungs auf die Zielzeit ganz nach dem Motto „Was man hat, hat man“, nennt Peter Greif „Das blödeste Verfahren“, das dennoch von Tausenden immer wieder angewandt wird. Ich bin in bester Gesellschaft. Das (zu) schnelle Anlaufen „gibt so harte, so schmerzhafte Strafen, wie sie im Sport eigentlich so nirgendwo vorkommen. Wer schon einmal nach 30 km völlig leer war und sich noch bis zum Ziel schleppen musste, weiß wovon ich rede“, fügt Greif hinzu. Ich kann ihm nur beipflichten. Und dennoch verfalle ich noch immer dieser Taktik.
Aber warum zum Teufel? Zunächst mal, weil wir Menschen so ticken. Heißt es nicht „spare in der Not, so hast du in der Zeit“? Hamstern ist ein Impuls, der sich schwer unterdrücken lässt. Bei mir kommt etwas hinzu: Gleich bei meinem ersten Marathon erlebte ich einen veritablen Einbruch, einfach deshalb, weil ich nicht gut genug darauf vorbereitet war. Aber auch später erwischte mich immer wieder der Mann mit dem Hammer. Seitdem läuft bei mir immer die Sorge mit, einem Einbruch zu erliegen. Will ich trotzdem noch meine angepeilte Zeit halten, muss ich bereits von einem nennenswertes Zeitpolster zehren können, um den durch den Einbruch hervorgerufenen Zeitverlust noch auffangen zu können. Es ist schon fast Ironie, dass ich genau durch diese Taktik einen Einbruch provoziere. Ein Teufelskreis.
Und noch etwas spielt eine Rolle: Die mir vorausgesagten Marathonzeiten lagen eigentlich immer über den Zeiten, die ich mir vorgenommen hatte. Insgeheim schwang daher immer der Gedanke mit, mehr zu können. Ein bisschen mehr Tempo konnte also nicht schaden. Das ist auch diesmal so. Mein Plan ist ausgelegt auf eine Zeit unter 3:10 Std., die letzten Prognosen pendeln sich bei knapp über drei Stunden ein. Das gilt auch, wenn man die Rechenformel bemüht, nach der die Halbmarathonzeit * 2,1 die theoretische Zielzeit für einen Marathon ergibt. Theoretisch!
Wenn ich ganz ehrlich bin, spüre ich auch jetzt das Verlangen, am Sonntag etwas mehr zu wagen. Gleichzeitig war mir der letzte lange Lauf eine Mahnung. Breche ich ein, kann ich mir die 3:15 Std. abschminken. Dann wird es so wie immer und ich werde Frust schieben, dass es nicht so gelaufen ist, wie ich mir das vorgestellt habe.
In der Theorie habe ich es verinnerlicht: Bei keinem Rennen ist es so wichtig wie beim Marathon, dass man ein gleichmäßiges Rennen läuft. Es gilt, das Aufzehren der Glykogen-Reserven so lange hinauszuzögern wie irgend möglich. Denn nichts anderes ist der Mann mit dem Hammer als das Umschalten der Energiegewinnung von Kohlenhydraten (Glykogen) auf Fett. Die Glykogen-Reserven werden so oder so nicht bis zum Ende halten, nach zwei Stunden ist der Tank leer. Ich müsste mich schon an die Spitze des Feldes setzen und Weltrekord laufen, damit ich rechtzeitig vor dem Leerlaufen der Speicher ankomme. Wahrscheinlicher ist, dass ich danach noch mindestens eine Stunde und fünfzehn Minuten in Bewegung sein werde. Es muss mir also daran gelegen sein, den toten Punkt hinauszuzögern und nach hinten zu verschieben. Mit Gels während des Laufs, aber eben auch mit einer klugen Renntaktik. Jeder zu schnell gelaufene Kilometer am Anfang, wird mir dabei umso härter auf die Füße fallen. Denn: Je schneller ich laufe, desto höher der Glykogen-Anteil an der Energiegewinnung. Und: Laktat im Blut drosselt die Lipolyse – die Gewinnung von Energie aus Fett. Aber sie ist es, auf die es ankommt. Je mehr Energie aus Fetten ich ziehe, desto länger halten meine Glykogen-Reserven und umso geringer das Leiden am Ende des Marathons.
Die große Kunst ist es, sich nicht von der Euphorie mitreißen zu lassen oder von anderen Läufern. Ziel muss es sein, das gesamte Rennen in einem gleichmäßigen Tempo zu laufen. Optimal ist es, wenn die zweite Hälfte sogar leicht schneller gelaufen wird. Schnell angehen, da sind sich alle Ratgeber und Experten einig, ist der größte und am häufigsten begangene Fehler. Immer und immer wieder. Das muss ich mir permanent vor Augen führen! Vielleicht sollte ich es als Mantra verinnerlichen. Gut, dass es für meine Zielzeit einen Tempomacher gibt. Wird gerne auch Bremsläufer genannt. Wenn ich mich an ihn halte, sollte ich vor Dummheiten gefeit sein. Wenn ich mich dann jenseits der 25 km oder gar 30 km noch gut fühlen, kann ich immer noch meiner inneren Überzeugung folgen und beweisen, dass ich eigentlich schneller bin.
Ernährung vor dem Marathon
Um meine Glykogen-Speicher möglichst optimal zu füllen, habe ich mich in den zurückliegenden Tagen auch mit der Frage der Ernährung befasst. Was soll man wann essen? Und wie viel? Ich erinnere mich immer noch deutlich, was Nils damals vor dem ersten Marathon 2007 auf die Frage nach seinem Frühstück sagte: Sechs Toast. An den Belag erinnere ich mich nicht mehr. Aber es muss irgendwas Süßes gewesen sein.
Er scheint damit nicht schlecht gelegen zu haben. Die meisten Empfehlungen besagen, dass man morgens vor dem Marathon möglichst leicht verdauliche Kohlenhydrate zu sich nehmen soll. Also Toast oder helle Brötchen, idealerweise mit Honig oder Marmelade. Reis oder Nudeln gehen auch. Verzichten soll man hingegen auf Ballaststoffreiches wie Vollkornprodukte, Obst oder Salat. Anders sieht das nur Hr. Butz von laufcampus.de, der eben genau das empfiehlt: Vollkorn. Weil die daraus verfügbaren Kohlenhydrate langsamer ins Blut sickern und länger verfügbar sind. Klingt irgendwie einleuchtend. Wäre er nicht so allein mit seiner Empfehlung. Ich heule einfach mit den Wölfen und werde mich an die leicht bekömmlichen Kohlenhydrate halten. 200 g sollen es etwa sein, die man zwei bis drei Stunden vor dem Start zu sich genommen haben sollte. Dann nur noch ein Snack oder direkt vor dem Start ein Gel oder einen Riegel.
Ausführliche Tipps zur Ernährung in der Woche vor dem Rennen findet man weit weniger häufig als Angaben zum Frühstück. Gelegentlich finden sich noch Anleitungen für die Saltin-Diät, bei der zunächst alle Kohlenhydrate im Körper aufgebraucht werden sollen, ehe man sich in den letzten vier Tagen vor dem Lauf sinnlos damit vollstopft. Insgesamt wird dazu aber nicht mehr geraten. Anstelle der extremen Form der Kohlenhydratmast – tolles Wort! – wird nun auf das sog. Carbo-Loading gesetzt. Gemeinsam haben beide Varianten das Ziel, möglichst viele Kohlenhydrate in Muskeln und Leber einzulagern.
Im Unterschied zur Saltin-Diät verzichtet das Carbo-Loading auf ein vollständiges Entleeren der Glykogenspeicher durch einen langen Lauf. Es wird bei reduziertem Training auf eine kohlenhydratreiche Kost umgestellt. Allerdings soll dabei nicht ohne Sinn und Verstand gefressen werden, was reich an Kohlenhydraten und nicht bei drei auf dem Baum ist. Die Ernährung soll schlicht umgeschichtet werden. Man benötigt nicht mehr Kalorien, sonst nimmt man automatisch zu. Wichtig ist die Quelle der Kalorien, die zu 60-70 % aus Kohlenhydraten stammen sollen. Und auch bei der Mahlzeit am Vorabend wird eher zur Mäßigung geraten. Ein guter Teller Pasta, Kartoffeln oder Reis sollte es tun. Und sogar ein Glas Wein oder eine Flasche Bier wird gelegentlich gestattet. Allerdings nur zur um die flatternden Nerven zum Schweigen zu bringen.