Sehr lange Strecken haben es mir gerade angetan. Seit ich an meinem 41. Geburtstag Mitte Januar einfach aus dem Training heraus einen Marathon gelaufen bin, hat sich bei mir etwas getan. Es war so etwas wie ein Wendepunkt in läuferischer Hinsicht. Bis zu diesem Tag verband mich mit dem Marathon eine echte Hassliebe, die bereits mit meinem ersten Marathon vor fast 15 Jahren begann. Damals erlitt ich nach 25 km einen harten Einbruch, ein Muster, das sich immer wiederholen sollte. Das ging so weit, dass mich die Furcht vor dem Mann mit dem Hammer auf jedem lagen Lauf begleitete. Manchmal träumte ich nachts sogar von Marathons träumte, bei denen mir – wie in echt – der Saft ausging. Klingt bescheuert, oder? War aber genau so.
Die wachsende Lust an langen Läufen
Trotz verschiedener Marathons, die ich im Laufe der Jahre in akzeptablen Zeiten lief, fühlte ich mich nie so ganz richtig als Marathonläufer. Nie beendete ich einen Marathon ohne Gehpause, Einbruch sei Dank. Ein Makel, den ich erst 2019 beim Marathon in Mainz ablegen konnte. Einen Einbruch erlitt ich trotzdem. Warum schreibe ich das alles? Ganz einfach: Einen Marathon zu laufen, ohne einen Einbruch zu erleiden, kannte ich nicht. Ich war überzeugt, dass ich dazu nicht in der Lage sei. Bis zu meinem Geburtstag in diesem Jahr. Seitdem ist meine Lust an langen Läufen gewachsen und steigt mit jedem erfolgreichen Versuch immer weiter.
So lief ich im Februar erstmals mehr als die Marathondistanz und steigerte nach einem gescheiterten Versuch die zurückgelegte Distanz nochmals im März. Mehr als 47 km hatte ich – bis auf ein paar harte Kilometer am Ende – relativ entspannt bewältigt. Da lag es nahe, sich auch an die 50 km heranzuwagen. Das war mein Plan für dieses Wochenende.
Weil mir ein reizvolles Ziel hilft, hatte ich nach dem Schloss Marienburg und dem Marktplatz in Hildesheim diesmal die Innenstadt von Braunschweig angepeilt. Rund 49 Kilometer sollten das sein, zzgl. der Extrameter, die man auf so einem Lauf sammelt, würden 50 km zusammengekommen.
Start bei Temperaturen um den Gefrierpunkt
Ich starte um 6:45 Uhr und noch bevor es richtig losgeht, merke ich, dass ich abends zuvor zwei linke Handschuhe herausgelegt habe. Dann muss es eben ohne gehen. Es ist kühl, so um die 0 °C und ich fröstele auf den ersten Kilometern. Dann bin ich durch die Bewegung warm genug. Bei der Streckenplanung habe ich mir nicht allzu viel Zeit genommen und die Arbeit Garmin überlassen. Ich weiß, dass es – nachdem ich die Stadt verlassen habe – am Rande des Burgdorfer Holzes entlang geht. Da der Morgen sonnig ist, ist das richtig schön. Rechts ein See, links der Wald, durch die Bäume blitzt immer wieder die Sonne. So geht es die ersten 10 km ganz entspannt.
Dann zeigt sich, dass die Routenplaner nicht fehlerfrei sind. Mein Uhr will mich über eine gut befahrende Landstraße ohne Fahrradweg leiten. Ich entscheide mich für eine kurze Offroad-Passage und laufe am Rande eines Feldes parallel zur Straße. Geht auch. Ich durchquere das kleine Dorf Arpke, dann geht es in den nächsten Wald. Ich bin zufrieden mit der Strecke, das hätte ich nicht erwartet und befürchtet mehrheitlich an befahrenen Straßen laufen zu müssen. Nach gut 14 km überquere ich auf einer Brücke die A2 von Nord nach Süd. Jetzt bin ich schon einmal auf der richtigen Seite, schließlich liegt Braunschweig südlich der Verkehrsader. Ich erreiche Hämelerwald und stoppe kurz am gleichnamigen Wald, die Blase drückt. Verdammter Kaffee. Ich renne weiter Richtung Süden. Hier war ich noch nie, komplettes Neuland. Das pusht mich immer wieder. Und dazu ist es auch noch richtig schön.
Monotonie am Mittellandkanal
Mein Kurs führt mich den Hainwald, dann erreiche ich den Mittellandkanal. Ich überquere den Kanal, weil ich mich zu erinnern meine, dass ich auf der südlichen Seite laufen müsse. Die Uhr ist anderer Meinung, weshalb ich wieder kehrt mache. Ich hatte leichten Bammel vor diesem Wegstück, weil es von nun an für lange Zeit schnurgerade entlang des Kanals gehen wird. Einerseits ist das Laufen am Wasser ganz cool, andererseits sehr monoton. Um meine Befürchtungen zu zerstreuen, überholt mich gleich zu Beginn ein großer Kahn. Das Schöne an Schiffen ist, dass man sich mit ihnen für lange Zeit eine Art Wettrennen liefern kann. Viel schneller als ich sind die auch nicht unterwegs.
Wäre das heute nicht ultralanger Lauf, würde ich mir zutrauen, den Pott abzuhängen. So zieht er langsam davon. Aus Osten nähert sich ein weiteres Schiff. Auf dem Rumpf steht „Niedersachsen“ und „Hannover“. Heimat, yeah! Allerdings merke ich, dass ich mich vom 96-Land schon relativ weit entfernt habe und dem Erzrivalen immer näher komme. Aufkleber und Graffiti sprechen eine deutliche Sprache. Die vorherrschende Farbe ist blau-gelb.
Ansonsten passiert tatsächlich nicht viel. Nach einer Weilte fällt mir auf, dass links von mir in regelmäßigen Abständen beschrifte Schilder stehen. Ich kriege spitz, dass das wohl Kilometermarken sind. Anfangs sind die Zahlen auf den Schildern noch kleiner 200. Nach und nach zählen sie hoch und als ich den Kanal endlich verlassen darf, bin ich bei über 210 angekommen. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass ich 15 km am Kanal gelaufen bin.
Ein kleiner Schock
Kurz vor der x-ten Brücke führt mich meine Route weg vom Wasser. In Ermangelung einer Treppe muss ich die steile Böschung rechts von mir hinauf. Möglich, dass eine Treppe auf der anderen Seite der Brücke ist, aber ich bin unwillig nachzusehen. Ich bin einfach nicht mehr gut drauf und möchte mir jeglichen unnötigen Meter klemmen.
Weil ich die Böschung nicht hinauf laufen kann, stoppe ich kurz die Uhr. Dabei sehe ich, dass ich fast exakt 36 km gelaufen bin. Das haut rein. Ich hatte mir etwas vorgemacht und gehofft, schon wesentlich weiter zu sein, mir eingeredet, vielleicht sogar schon in den Außenbezirken von Braunschweig zu sein. Weit gefehlt. Ein Wegweiser legt den Finger in gleiche Wunde: Braunschweig 15 km. In diesem Moment bin ich mir absolut sicher, dass ich es nicht schaffen werde, dafür bin ich nicht frisch genug. Zunächst laufe ich aber natürlich weiter. Hier, mitten im Wald, kann mich meine Frau sowieso nicht einsammeln und nachdem ich den nächsten Kilometer bezwungen habe, kann ich mich voll auf die 40 km konzentrieren.
Das hilft. Dieses Ziel ist erreichbar und das traue ich mir noch zu. Und außerdem ist es wirklich nett hier. Ich überquere eine kleine Holzbrücke – 38 km. Ich sehe Forstarbeiter – 39 km. Ich erreich einen Abzweig des Mittellandkanals – 40 km. Ging doch ganz gut.
Pause am Straßenrand
Die Treppe vom Kanal zurück auf Straßenniveau gehe ich aber und stoppe die Zeit. In einer kleinen Ortschaft verfranse ich mich kurz, aber ich bleibe dran, nähere mich der Marke von 41 km. Den Marathon werde ich voll machen, steht für mich fest.
Und so ist es auch. Der 43. Kilometer ist ja auch schon angefangen, also laufe ich den jetzt auch noch zu Ende. Obwohl ich inzwischen bei einer 6er-Pace angelangt bin, macht es mir richtig Probleme, noch in Bewegung zu bleiben. Wie mühsam das Laufen wird, wenn die Kohlenhydrate komplett aufgebraucht sind! Jeder Schritt kostet Überwindung. Als die Uhr das 43. Mal piept, setze ich mich ins Gras. Ich mache eine Pause, fotografiere mich kurz selbst und schreibe einen kurzen Lagebericht an meine Frau, die – wie sich herausstellt – schon in der Innenstadt wartet. Nach fünf Minuten geht’s weiter. Ich habe mir Musik angemacht und habe ein kurzes Hochgefühl. Ich singe und tanze mehr, als das ich laufe. Das Hoch ist allerdings von kurzer Dauer und ich bin schnell wieder so zerstört wie ich es vor der kurzen Pause war.
Letztes Ziel: Braunschweig
Mein eigentliches Ziel habe ich deswegen aufgegeben, will nur noch bis nach Braunschweig hinein. Einfach nur als Gag und Genugtuung. Als ich 44 km geschafft habe, bin ich wieder in einer Siedlung, kann aber kein Ortsschild entdecken. Ziemlich sicher gehört das hier schon zu Braunschweig, aber ich kenne ich hier eben nicht aus. Ich laufe durch ein Wohngebiet und inzwischen schwitze ich aus allen Poren. Es ist kalter Schweiß und ich weiß, das ist das Zeichen aufzuhören. Aber nicht sofort! 45 km mache ich voll, das ist eine runde Sache und für heute kann ich damit gut leben, sehr gut sogar.
Selbst die Paarhundert Meter sind saumäßig anstrengend und ich muss mich quälen. Mehr als Schneckentempo schaffe ich trotzdem nicht mehr. Mitten zwischen Reihen- und Einfamilienhäusern ist für mich das Ziel erreicht und ich pflanze mich kurz auf einen Bordstein und warte auf mein persönliches Taxi. Nur eines fehlt mir noch immer: Das Ortsschild. Erst als ich schon im Auto sitze und wir wenden, kommen wir doch noch an einem vorbei. Geht doch! Jetzt kann ich beruhigt die Füße hochlegen. Oder auch nicht. Jetzt steht der Familienausflug auf dem Programm.