Die Nacht hätte besser sein können. Einen Teil davon habe ich auf dem Sofa verbracht und weniger Schlaf bekommen, als ich mir das gewünscht hätte. Mich aus der Decke zu schälen, kostet mich große Überwindung. Lahm bereite ich mein spärliches Frühstück zu. Joghurt mit einigen Früchten. Seit gestern spinnt mein Magen, ständiger Druck erzeugt Unwohlsein. Meine Sachen liegen bereit, das erleichtert die Vorbereitung. Trotzdem gehe ich nicht mit dem Elan von der Vorwoche ans Werk, nur widerwillig und bin gar nicht sicher, ob ich überhaupt laufen will. Nein, ich bin fast bereit, mich wieder aufs Sofa zu pflanzen und gar nichts zu tun, bis ich mich innerlich aufraffe, zu meiner Frau sage, dass ich gar nicht mehr loslaufe, wenn nicht jetzt.
Die Gelegenheit für den Lauf hatte sich eher spontan ergeben. Nach meiner Auszeit auf dem Bückebergweg, hatte ich eigentlich nicht schon wieder einen längeren Lauf geplant. Doch wie der Zufall manchmal spielt, hatte Corona unsere Familienpläne ordentlich durchgemischt und meine Frau mir grünes Licht gegeben. Erst am Samstag, einen Tag vor dem Lauf, stampfte ich die Route aus dem Boden und überließ die Arbeit mehr oder weniger Garmin. Meine Eingriffe beschränkten sich auf ein Minimum: Start, Ziel und Länge. Für letztere Bedingung setzte ich aus einer Laune heraus eine Markierung in den Ort Hohenhameln, dort bin ich noch nie gewesen und es klang interessant.
Das führte automatisch dazu, dass die entstandene Route einen anderen Verlauf nahm als bei meinen bisherigen Läufen nach Hildesheim. Ein bisschen Abwechslung ist gut für die Motivation, insbesondere bei so langen Strecken. Vielleicht würde es mir bei meinem Vorhaben helfen. Ich fühlte mich trotz der Vorbelastung der letzten Woche gut und wollte mich an einer neuen Bestzeit über 50 km probieren. Alles inoffiziell versteht sich, offiziell habe ich noch keinen 50-km-Lauf mitgemacht.
Der erste Schritt ist oft der schwerste
Ich packe es also doch noch und bin schon nach den ersten Metern froh, mich gegen den Schweinehund durchgesetzt zu haben. Es ist platt, doch der erste Schritt, egal bei welcher Laufdistanz, ist immer der schwerste. Naja, manchmal ist es auch nach hinten raus richtig fies, wenn man ehrlich ist. Sagen wir also, dass der erste Schritt häufig der schwerste ist. So oder so geht es die ersten Kilometer durch unseren Stadtpark, dann hinaus in die Feldmark.
Die Sonne ist bereits im Aufgehen begriffen und goldenes Licht ergießt sich über alles. Es ist wunderschön anzusehen und belohnt mich jetzt schon fürs Loslaufen. Zugleich ist es ziemlich kalt und ich muss erst einmal warm werden, den Körper auf die richtige Betriebstemperatur bringen. Und in die Büsche. Brühe, Wasser und Kaffee wollen raus. Bei einem echten Wettlauf könnte ich die Zeit dafür nicht stoppen, aber hier geht das. Zumal ich sonst wahrscheinlich einfach durchhalten würde oder vorher ein Dixi aufgesucht hätte.
Die nächste Pause folgt nach acht Kilometern. Bis vor einiger Zeit stressten mich solche Pausen immer, weil ich mir selbst beweisen wollte, die Distanz ohne eine Pause laufen zu können. Inzwischen hat sich das geändert. Ich weiß, dass ich es kann und bin gelassener. Der Druck des Beweises belastet mich nicht mehr. Solange die Sonne noch niedrig steht, möchte ich ein Bild schießen. Auch das ist ein gewisser Druck, den ich schon seit Minuten verspüre. Schon in wenigen Kilometern wird das schöne Licht ungenutzt verflogen sein. Also Stativ raus und die Gelegenheit nutzten, dann kann ich mich aufs Wesentliche konzentrieren – auf das Laufen.
Lange Zeit kommt nichts
Der erste Kilometer lag über dem Schnitt von 5:30 min/km. Seitdem läuft es aber. Es ist kein Tempo, das mir Mühe bereitet. Nicht auf kurze und auch nicht auf die Marathondistanz. Es könnte höchstens zum Ende hin problematisch werden. Auch wenn es nur acht Kilometer mehr sind als ein Marathon, muss ich mich an das, was über 42 km geht, erst herantasten. Und so schnell wie heute bin ich den 50er noch nie angegangen.
Nachdem ich Immensen durchquert habe, kommt zunächst für lange Zeit gar nichts mehr. Ich laufe zwischen Feldern und Wiesen. Kleine Abwechslung ist ein Fasan auf einem Feld, der sich von mir nicht stören lässt. Nach 15 Kilometern komme ich an einen beschrankten Bahnübergang, an dem ein kleiner Pferdehof steht. Es ist auf einer fast zehn Kilometer langen Strecke, die einzige Ansiedlung. Der nächste Ort heißt Dolgen. Weil ich mal aktiver Fußballer war (bzw. bin), kenne ich den Ort zumindest dem Namen nach und weiß auch, dass in der Nähe Haimar liegen muss. Beide Orte bildeten zu meiner Zeit als Kicker eine Spielgemeinschaft. Seit meinem einzigen Spiel dort vor annähernd zwanzig Jahren bin ich nicht mehr hier gewesen.
In Städten laufe ich, wenn es sein muss. Meist gibt es dort ja auch naturnahe Parks oder Flüsse, an denen man einigermaßen abseits der eigentlichen Stadt laufen kann. Für Dörfer habe ich hingegen durchaus etwas übrig, aber sie müssen ein gewisses Alter haben. Die uniformen Neubausiedlungen sind so öde wie ein Kasernengelände. Ich kann mir gut die Zeit damit vertreiben, Häuser und Gärten anzuschauen, erfreue mich an den alten Ortskernen. So gesehen, sind Dolgen und Haimar für mich eine willkommene Abwechslung von der langen Strecke zwischen Wald und Wiese.
Das Magengrummeln hält an
Noch immer macht mir mein Bauch Sorgen und Probleme. Es fühlt sich an, als hätte meine Verdauung den Dienst eingestellt. Irgendwie steht es mir bis oben. Letzte Woche hatte ich nach 25 km ein konkretes und drängendes Hungergefühl, heute kann davon nicht die Rede sein. Eher im Gegenteil, ein Völlegefühl plagt mich. Ich habe gestern etwas mehr gegessen. Möglicherweise ist das der ausschlaggebende Punkt. Aus Vernunft nehme ich trotzdem ein Gel zu mir, der Zeitpunkt ist eh schon eher spät.
Was die Strecke betrifft, nähere ich mich nach fünf Kilometern durch die Feldmark wieder einigen Ortschaften, darunter Hohenhameln. Der Feldweg, auf dem ich laufe, ist so exponiert, dass mir der eisige Wind ins Gesicht schneidet und zusätzlich Kraft kostet. Nur langsam kommen die Häuser am Ende der Treckerspuren näher, das Stück zieht sich. Im Wind läuft es sich einfach nicht gut. Umso besser, dass ich alsbald scharf nach links abbiegen darf, dann – so will es die Uhr – soll es rechts weitergehen. Aber wie? Da ist ein Feld und nicht der Hauch eines Weges. In der Hoffnung, dass früher oder später ein Abzweig nach rechts kommt, laufe ich geradeaus weiter. Tatsächlich brauche ich nicht lange warten, in Ohlum findet sich die Querverbindung und wenig später bin ich zurück auf meiner Route. Seltsam, was die Routenplaner manchmal vorschlagen.
Laufen als Reise in die Kindheit
Hohenhameln ist schnell passé, dann komme ich nach Clauen. Ein Name, den ich aus meiner frühesten Kindheit kenne, aber nur dem Namen nach. Natürlich auch im Zusammenhang mit Fußball. Manchmal bin ich überzeugt, dass mein geografisches Wissen durch Fußball geformt wurde. Ein guter Nebeneffekt. Ein Lauf in die Region Hildesheim ist für mich immer auch eine Reise in die Vergangenheit, hat immer etwas leicht Nostalgisches. Hier habe ich meine ersten Lebensjahre verbracht und mit dem Abstand von über 30 Jahren hat sich eine gewisse Patina über meine Erinnerungen gelegt. Durch die Läufe leben sie wieder auf und plötzlich kommen Namen wieder hoch, an die ich jahrelang nicht dachte.
Nach 34 km überquere ich eine kleine Brücke, verlasse damit den Landkreis Peine und bin ab nun im Landkreis Hildesheim. Ich bilde mir ein, dass es mir nicht mehr so gut geht. Tief in mir warte ich auf ein Einbrechen, ein Nachlassen. Der 36. und 37 Kilometer scheinen Beleg dafür zu sein. Ich brauche über 5:35 min. bzw. 5:34 min. Ich lutsche mein zweites Gel und hoffe auf einen Schub. Klar, das dauert, bis der Stoffwechsel die Kohlenhydrate aus dem Gel zur Verfügung stellt, aber wenn ich jetzt nicht tanke, ist der Ofen vielleicht bald aus. Das Gel ist aber auch eine Herausforderung für meinen geplagten Magen. Ich habe mal wieder die Gels von Aerobee herausgeholt. Bisher habe ich damit gemischte Erfahrungen gemacht. Mir schien, als würde der Energiegewinn schnell erfolgen, aber mir schlug der Honig bisher immer leicht auf die Verdauung.
Warten auf die Schranke
Meine Sorge war scheinbar unbegründet. Schon auf den folgenden Kilometern verfalle ich wieder in den zuvor angeschlagenen Schnitt und bleibe regelmäßig unter 5:30 min. Das Gel schlägt nicht durch und es läuft. Aber nicht mehr lange. Eine Bahnschranke verdonnert mich zur Zwangspause. Drei Minuten stehe ich an der Schranke in Harsum. Zeit genug für ein Foto und einen kleinen Wechsel der Garderobe. Mir ist mit der Zeit warm geworden und ich verstaue nun Mütze und Handschuhe im Rucksack. Bei diesen Gelegenheiten komme ich mir immer vor wie auf dem Präsentierteller. Den Leuten im Auto ist langweilig und ich fühle mich von ihnen gemustert wie ein exotisches Tier. Nach knapp vier Minuten geht es weiter.
Ab Kilometer 42 führt es mich auf einen kleinen Weg entlang des Stichkanals nach Hildesheim. Das Ziel kommt jetzt mit Riesenschritten näher, das liegt auch daran, dass ich unbewusst schneller werde.Wahnsinnig abwechslungsreich ist es am Kanal nicht, aber es herrscht reger Fußgängerverkehr. Mir missfällt, wie viele Menschen meinen Gruß nicht erwidern. Je weiter die Erschöpfung voranschreitet, desto mehr stört mich diese Unhöflichkeit. Wenn ich mir nach mehr als einem Marathon einen Gruß abringen kann, dann doch auch jeder Spaziergänger und jede Fahrradfahrerin.
Ein kurzer Gruß der Hüfte
Apropos Erschöpfung. Noch gibt es keinen Leistungsabfall, im Gegenteil. Ich bin schneller unterwegs als zu Beginn. Spürbar ist die zunehmende Erschöpfung dennoch. Es wäre auch überraschend, wenn nicht. Nach 45 km bin ich in einer Art Hafen, würden mir keine Fußgänger entgegen kommen, ich würde zögern dort hineinzulaufen. Schließlich untersagt ein Schild das Betreten bei Kranbetrieb, doch es ist Sonntag und der Kran macht Pause. Noch fünf Kilometer.
Dass ich meine Route nicht sauber geplant habe, merke ich auf dem Folgestück. Anstatt an der Innerste entlang, führt mich meine Uhr zum Kupferstrang, einem Kanal, der erst kurz vor Hildesheim in die Innerste mündet. Das ist schade, aber auch kein Drama. Diesen Lauf werde ich zu Ende bringen und schon jetzt ist mir klar, dass das eine neue Bestzeit ist. Da müsste schon was Unvorhergesehenes passieren, um mir noch einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Zum Beispiel sowas: 48 km sind vorbei, da schießt mir ein heftiger Schmerz durch meine linke Hüfte. Es schmerzt so sehr, dass ich kurz aufschreie, aber niemand nimmt Kenntnis davon, weil ich gerade allein bin am Ufer der Innerste. Mein Lauf ist quasi um, mickrige zwei Kilometer sind es noch, bis zu meinem selbstgesetzten Ziel am Dom von Hildesheim, aber das tat wirklich weh. Schon auf den Kilometern davor hatte ich ein seltsames Gefühl in der Hüfte. Ungewöhnlich ist das nicht, nach fast 50.000 Schritten. Dieser plötzlich auftretende stechende Schmerz aber besorgt mich so sehr, dass ich kurz in mich hineinspüre, inne halte, sozusagen einen Systemcheck durchführe. Kann ich noch laufen? Schmerzfrei oder kehrt der Schmerz zurück? Ziemlich schnell merke ist klar, dass ich weiterlaufen kann. Vorsichtig zunächst, dann geht es wieder relativ flüssig.
Der „Zieleinlauf“ hat Stil
Die letzten Meter laufe ich abseits meiner Route, Bauarbeiten verhindern, dass ich weiter am Ufer laufe. Ich suche mir stattdessen einen Parallelweg durch die Stadt. Durch das Paulustor auf der Südseite des Domhügels erreiche ich mein Ziel. Der Lauf durch das Tor hat was von Zieleinlauf und wie es der Zufall will, habe ich exakt 50 km auf meiner Uhr, obwohl ich hie und da von der Strecke abweichen musste. Ich entscheide mich, den Lauf genau hier zu beenden, wenngleich mein Plan vorsah, noch bis zum Marktplatz zu laufen. Ich habe, was ich wollte, da brauch ich keine weiteren Meter abreißen. Nach etwas mehr als viereinhalb Stunden habe ich die 50 km geschafft und gönne meiner Hüfte nun die notwendige Pause. Sie fühlt sich weiterhin etwas weich an, anders kann ich es nicht beschreiben. Laterale Bewegungen meide ich, der normale Hüftschwung geht problemlos.
Die Stimmung auf dem Domplatz ist erhebend. Die Sonne scheint und es läutet für die Sonntagsmesse. Ich genieße die Sonne, ehe ich zum Treffpunkt mit meiner Familie schlendere. Es ist Zeit für Kuchen.
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