Vier Läufe mit einer Distanz zwischen 44 und 47 km hatte ich dieses Jahr bereits absolviert. So weit war ich zuvor noch nie gelaufen. Der nächste Schritt lag da nur allzu nahe. Ich wollte früher oder später die 50 km knacken. Einen spontanen Versuch hatte ich schon im Januar noch vor meinen ersten Ultraläufen unternommen, nach rund 30 km aber abbrechen müssen. Nach meiner relativ spontanen Anmeldung zum Schweriner Seentrail, der mit 61 km Länge mein erster offizieller Ultralauf werden soll, hielt ich den Zeitpunkt nun für gekommen, um einen zweiten Versuch zu starten. Wer 61 km am Stück laufen will, dem müssen auch 50 km gelingen.
Ein Ziel muss her
Bei der Streckenplanung spielte das Ziel eine tragende Rolle. Wie bisher ließ ich mich auch diesmal von dem Gedanken leiten, welches attraktive Ziel ich mit der geplanten Distanz würde erreichen können. Gerade für diese extra langen Läufe fallen mir Punkt-zu-Punkt-Strecken leichter als eine große Runde, die vor meiner Haustür startet und endet. Die Entfernung ist dadurch greifbarer und ein spürbarer Motivationskick. Je weiter man sich von Zuhause entfernt, desto größer wird bei mir dieser Kick. Die Vertrautheit der Ortsnamen nimmt nach und nach ab, ich komme auf Wege, die ich noch nicht hunderte Male abgelaufen bin, manchmal ändert sich sogar die Landschaft.
Ziemlich schnell hatte ich mich auf das Steinhuder Meer als Ziel festgelegt. Haken an der Sache war, dass die von Garmin automatisch geplante Strecke deutlich über das Maß von 50 km hinaus ging. Je nach Route lag die Distanz bei fast 60 km. Ein etwas zu großer Sprung von meiner bisher längsten Strecke von 47 km. Voreingestellt ist bei Garmin die Navigation über die beliebtesten Strecken. Im Grunde eine gute Sache, für mein Vorhaben aber kontraproduktiv. Ich wollte möglichst direkt zum Steinhuder Meer laufen, um die Distanz von 50 km einhalten zu können. Weniger wollte ich auf keinen Fall. Nichts stellte ich mir zermürbender vor, als noch ein paar Runden durch Steinhude drehen zu müssen, bis die 50 km voll wären. Ein bisschen mehr würde ich mir zutrauen, aber Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste und Selbstüberschätzung des Läufers Tod.
Ich befragte also der Einfachheit halber Google – mit Erfolg. Ziemlich exakt 50 km wies mir der Routenplaner aus. Wie ich erkannte, holte Google vor allem dadurch einige Kilometer heraus, weil die Route den direkten Weg einschlug. Soll heißen: Die ersten 20 km würde ich überwiegend auf Landstraßen laufen müssen, ohne Fahrradwege. Da ich am Wochenende laufen würde, ein Manko, das ich akzeptieren konnte.
Motivationsprobleme
Dankenswerter Weise hatte meine Frau mich zum Schlafen in den Keller geschickt. Was wie eine Strafe klingt, ist genau das Gegenteil. Sie wollte, dass ich ungestört von unseren kleinen Zwillingsmädchen schlafen konnte und dafür eignete sich unser Partykeller ideal. Ich schlief sogar so gut, dass ich nach dem Abdrücken des Weckers um 5:30 Uhr für weitere 30 Minuten einschlief. Super Start. Der Lauf würde im angestrebten GA1-Tempo ohnehin mehr als fünf Stunden dauern. Da wäre es von Vorteil gewesen, rechtzeitig aus den Federn zu kommen.
Ganz kurz spiele ich mit dem Gedanken, das Unterfangen abzublasen. Ich gestehe: Ein bisschen Muffensausen habe ich. Habe ich immer vor so langen Läufen. Es ist der Respekt vor der Distanz und das Wissen darum, eine kleine Ewigkeit unterwegs zu sein. Prokrastrination – was könnte man alles anstellen in dieser Zeit. Mit einem Mal erscheint alles andere sehr reizvoll. Loslaufen braucht Mut. So abgedroschen es klingt, aber der erste Schritt ist einer der schwersten.
Kaffee, Wasser und ein kohlenhydratreicher Riegel, das musste als Frühstück genügen. Dann noch schnell den Reiseproviant gepackt. Vier Gels und eineinhalb Liter Flüssigkeit. Jetzt geht’s wirklich los. Es ist kurz nach sechs Uhr morgens, wird alles planmäßig laufen, werde ich zwischen 11 Uhr und 12 Uhr auf der Badeinsel am Steinhuder Meer ankommen. Besser, nicht über die Dauer nachzudenken oder die Distanz.
Auf geht’s!
Zunächst führt mich die geplante Strecke in nordwestlicher Richtung, ab Bissendorf – dem nördlichsten Punkt der Route – würde es dann nach Südwesten gehen. Nach drei Kilometern endet der Fahrradweg wie erwartet und ich setze meinen Lauf auf der Landstraße fort. Dass es sowas überhaupt noch gibt: Straßen ohne Fahrradweg. Weil nicht sonderlich viel los ist auf der Straße, lasse ich meinen Blick immer mal wieder nach links ins Oldhorster Moor schweifen. Schön, sehr ursprünglich und einfach nett anzusehen. In Oldhorst probiere ich mit meinem neuen Spielzeug herum, einem Gimbal, mit dessen Hilfe ich Videos und Fotos auch während des Laufens erstellen kann. Ich spiele ein wenig mit dem Teil herum, so vergeht die Zeit schneller. Mein gemächliches Tempo lässt solche Aktionen allemal zu. Wenig später bin ich bereits in Burgwedel. Endlich runter von der Straße. Der Ort ist relativ schnell durchquert, ab jetzt wird es spannend, weil unbekannt.
Fahrradwege? Fehlanzeige!
Ich hatte ab hier auf asphaltierte Fahrradwege gehofft und mich damit verspekuliert. Meist geht es weiter auf Straßen. Umso glücklicher bin ich über die Rücksichtnahme der Autofahrer. Sonntags sind halt alle entspannter. Kurz hinter Bissendorf öffnet sich nach Süden hin ein herrlicher Blick. Im Vordergrund ein Feld mit Kornblumen, in der Ferne der Flughafen und einige markante Bauwerke Hannovers, ganz am Horizont der Deister. Von hier hatte ich mein geliebtes Hannover noch nie gesehen.
Meine Uhr scheint mich derweil testen zu wollen. Der nächste Navigationsbefehl soll in 13 km kommen, bis dahin geht es geradeaus! Au Backe! Das ist ein verdammt langes Teilstück. Normalerweise ist die Navigationsfunktion der Uhr – außer zu ihrem eigentlichen Zweck – auch sehr hilfreich dabei, große Strecken in Einzelteile zu zerlegen. Für diesen Abschnitt gilt das ganz und gar nicht. 32 km werden es also sein, wenn ich das nächste Mal abbiegen muss. Heißt aber auch: Ich habe noch nicht einmal die Hälfte erledigt. Ein Gedanke, den ich nicht zu nah an mich heranlasse. Körperlich habe ich noch keine Probleme, aber der Kopf ist ja bekanntlich ein sehr entscheidender Faktor und wenn der nicht mitspielt, dann ist man ganz schnell fertig mit dem Lauf, noch bevor er zu Ende ist.
Keine Peilung
Bis Resse, der nächsten nennenswerten Ortschaft auf der Karte, geht es wirklich immer geradeaus auf der Landstraße. Abweichend von meiner sonstigen Herangehensweise, weiß ich heute jederzeit, wie weit ich schon gelaufen bin. Die Kilometer vergehen langsam, aber sie vergehen. Das Wissen darum, wo ich mich aktuell befinde, belastet mich wider Erwarten nicht, es gibt mir Orientierung und ich kann meinen Fortschritt gut messen. Auf diese Weise bleibt jedenfalls der Schock aus, den ich schon mehrmals erfahren habe, wenn ich „versehentlich“ meinen aktuellen Kilometerstand auf der Uhr sah und gefühlt schon viel weiter gelaufen war. Heute laufe ich einfach gleichmäßig und monoton in meinem Tempo, schwanke von den Zeiten immer nur um ein paar Sekunden.
Hinter Resse geht es endlich runter vom Asphalt hinein ins Moor. Lichter Wald umgibt mich und ich bin in diesem Moment glücklich. 30 km habe ich bewältigt, das ist viel. Gleichzeitig liegen noch weitere 20 km vor mir. Anders gerechnet: In zwei Stunden habe ich mein Ziel erreicht, wenn mir vorher nicht der Saft ausgeht. Anzeichen dafür gibt es noch nicht. Klar, die Muskulatur meiner Beine ist durch die dreistündige Beanspruchung nicht mehr ausgeruht, aber es gibt keine Signale, die mich skeptisch werden lassen.
Mehr Sorgen mache ich mir um meine Uhr, die die Peilung verloren hat. Ich kann zwar noch die Strecke verfolgen, aber die Distanz bis zur nächsten Navigationsmarke wird nicht mehr angezeigt. Gleich sollte ich das Ende des 13 km langen Abschnitts erreicht haben und als ich aus dem Wald herauskomme, bestätigt mir die Uhr mein Gefühl. Sie funktioniert wieder! Und leitet mich direkt ins Grün hinein. Der Weg ist kaum erkennbar, so stark ist die Treckerspur vom Grünzeug überwachsen. Zum Glück ist es nur ein kurzes Stück, ehe ich wieder auf gut laufbaren Wegen bin.
Entspannt auf die letzten Kilometer
Ein Brücke führt mich über die B6, das geht gut in die Beine. Kurz vor Bordenau breche ich die Reserveflasche im Rucksack an. Die Temperatur ist spürbar nach oben gegangen und mein Durst nimmt zu. Ich versuche, möglichst viel zu trinken, ohne es zu übertreiben. Gleich hinter dem Ortsausgang von Bordenau überquere ich die Leine, die sich hier wild schlängelt. Auf Höhe des Fährhauses piept meine Uhr zum zweiundvierzigsten Mal – der Marathon ist voll.
Mir geht es noch so gut, dass ich mir sicher bin, dass ich die fünfzig Kilometer rocken werde. Überheblich und vorschnell? Inzwischen kenne ich mich und meinen Körper so gut, dass ich ein sicheres Gefühl habe in solchen Dingen. Was mich aber stört: So langsam müsste ich doch Hinweisschilder entdecken, die mich zum Steinhuder Meer leiten. Mit den Ortsnamen kann ich nichts anfangen, weil ich sie geographisch nicht einordnen kann, wenngleich sie mir natürlich dem Namen nach geläufig sind.
Was mir auffällt, ist der zunehmende Fahrradverkehr. Zwischen Kilometer 43 und 44 klingelt das Telefon, meine Frau möchte wissen, wo ich bin. Poggenhagen! Wie lange ich noch bräuchte. Mindestens 30 Minuten. Das passe ideal, sie füttere zunächst die Zwillinge. Gute Frau! Nicht nur, dass sie mich unterstützt, sie hat auch noch die nötige Geduld. Insgeheim hatte ich schon ein wenig Zeitdruck verspürt, weil wir für ungefähr 11 Uhr verabredet waren, ich aber schon seit langem wusste, dass das nicht hinkommen würde. Jetzt konnte ich die letzten Kilometer entspannt angehen.
Die Suche nach der richtigen Strecke
Aber was heißt schon entspannt? Ein Hinweisschild! 7,2 km bis Steinhude. Irgendwas stimmt da nicht. Ich bin mir absolut sicher, dass die geplante Strecke 48 km beträgt. Wenn ich jetzt aber schon 44 km hinter mir habe und noch sieben Kilometer vor mir liegen, geht das ganz und gar nicht auf. Es folgen für mich bange Minuten. Ich rechne hin und her, komme aber auf keinen grünen Zweig. Unruhig macht mich einerseits der Gedanke, eventuell noch länger laufen zu müssen. Vielmehr treibt mich aber die Frage um, ob meine Uhr eventuell ungenau gemessen hat und ich noch gar nicht so weit gelaufen bin, wie es auf der Uhr angezeigt wird. Das wäre untypisch, aber durchaus denkbar.
Durch das Kuddelmuddel in meinem Kopf fällt mir das Laufen wesentlich schwerer. Es geht eben häufig im Kopf los. Beirren lasse ich mich dennoch nicht und ziehe durch. Nach 48 km bin ich mir fast sicher, einen Teil des Rundweges zu erkennen, der ums Steinhuder Meer verläuft. Dann bin ich mir doch wieder unsicher. Vor mir taucht jetzt ein Läufer auf, der ein kleines bisschen langsamer läuft als ich. Meter um Meter komme ich näher und freue mich über diese Tatsache. Nach fast 50 Kilometern sacke ich noch jemanden ein. Und das im GA1-Tempo.
Wer sagt’s denn? Das muss doch jetzt Steinhude sein! Kein Ortsschild weit und breit, aber ich erkenne plötzlich ein Haus wieder, das am Rundweg liegt und mir wegen seiner brachialen Bauweise jedes Mal negativ auffällt. So langsam dämmert mir die Erklärung für meine mutmaßliche Streckenabweichung. Ich hatte zwei Routen geplant, eine südliche und eben die nördliche, die ich aktuell lief. Es war die Alternativstrecke, die eine Distanz von 48 km hatte, die aktuelle war 50,8 km lang. Das passte!
Erstmals 50 km
Dann ist es so weit, meine Uhr meldet Kilometer 50, ein erhebender Moment für mich, den ich mit dem vorher schon aus der Tasche gefummelten Handy festhalte. Ein bisschen muss ich noch, der Parkplatz der Badeinsel ist noch nicht erreicht. Ich könnte natürlich auch gehen, aber mir geht es – so unglaublich es mir selbst vorkommt – noch immer gut. Nach fast genau 51 km erreiche ich den Steg, der auf die Badeinsel führt. Ich stoppe die Uhr für ein Foto-Finish, will danach eigentlich noch die 100, 200 m bis zum Strand laufen, lasse es dann aber und beende glücklich und stolz den Lauf für heute.
Ein bisschen perplex bin ich auch. Bis fünf Kilometer vor dem Ende hat mir der Lauf überhaupt keine Mühe gemacht. Wenn, dann war es eine mentale Herausforderung, körperlich hatte ich immer das Gefühl, locker schneller laufen zu können. Den Punkt, an dem die große Erschöpfung einsetzt, ich mich wirklich leer fühle und außerstande sehe weiterzulaufen, erreichte ich heute zu meiner Verwunderung nicht. Schon so oft bin ich in der Vergangenheit gegen diese Mauer geprallt, dass die Furcht davor immer in meinem Nacken sitzt.
Und auch bei meinen vier Ultraläufen dieses Jahr erreichte ich irgendwann immer einen Punkt, an dem die totale Erschöpfung eintrat. Was war heute also anders? Das Tempo? Der Trainingszustand? Ich hoffe, dass es letzteres ist und ich endlich Fortschritte mache, meine Fettverbrennung sich endlich dahingehend anpasst, auch auf der Marathondistanz wieder Verbesserungen zu erzielen. Der Herbst wird es zeigen. Und bis dahin werde ich noch ein bisschen herumexperimentieren, wie viele Kilometer ich eigentlich am Stück laufen kann.
7 Comments on “Yippie Yeah 50 k! 51 km zum Steinhuder Meer”