Jedes Jahr, wenn in Hannovers Straßen die Schilder aufgehängt werden, die den Streckenverlauf des Marathons kennzeichnen, spüre ich ein gewisses Kribbeln. Es ist die Vorfreude darauf, dass es bald losgeht. Ausnahmslos war der Lauf durch meine Heimatstadt in den letzten Jahren auch der Höhepunkt meines Laufjahres und oft auch das einzige Rennen, dass ich überhaupt bestritt. Bereitete ich mich mit einem Trainingsplan vor, läutete das Erscheinen der Schilder im Straßenbild die letzte Phase der Vorbereitung ein und das Fiebern auf den Wettkampf hatte endgültig begonnen. Doch nicht so in diesem Jahr. Ich bin bereits jetzt für diverse Läufe angemeldet und mein Höhepunkt soll der HASPA Marathon in Hamburg Ende dieses Monats sein. Hannover nehme ich nur mit, weil ich hier zuhause bin und ich auf mein Heimspiel nicht verzichten möchte. Und weil es sich nach drei Monaten intensiven Trainings bestens zur Formüberprüfung eignet.
Leider stehe ich aber vor dem gleichen Dilemma wie im letzten Jahr, als ich nicht wusste, wie ich das Rennen angehen sollte, nachdem ich bereits während der Vorbereitung das mir gesteckte Ziel deutlich unterboten hatte. Diesmal gibt es nicht einmal ein spezifisches Ziel, da ich nun einmal für einen Marathon trainiere und nicht für einen Halbmarathon. Das sind ganz andere Zeiten, die man da läuft. Zum Vergleich: Das Renntempo für einen Halbmarathon in persönlicher Bestzeit beträgt ungefähr 4:07 Min. pro Kilometer, also so an die 15 km/h. Im Marathon ist die Pace hingegen exakt eine halbe Minute langsamer pro Kilometer.
Nun könnte ich den Lauf am Sonntag dafür nutzen, um mein Marathonrenntempo zu trainieren. Dann werde ich aber gute zehn Minuten langsamer sein als bei meiner persönlichen Bestzeit. Und da ich weiß, dass ich das Tempo über 21,1 km jederzeit halten kann, reizt mich das auch nicht sonderlich. Bleibt eigentlich nur der Versuch, meine bisherige Bestzeit anzugehen. Und tief in mir weiß ich natürlich schon länger, dass ich das versuchen werde. Würde nur die leise Stimme der Vernunft ihre Klappe halten, anstatt unablässig zu mahnen, nicht zu überdrehen und womöglich Energie zu verpulvern, die ich in Hamburg noch brauchen werde. Kann man mit einem Lauf am Rande des roten Bereichs alles zunichte machen, was man sich vorher wochenlang aufgebaut hat? Möglicherweise Ist das die Leitfrage, mit der ich meinen Plan für Sonntag festlegen kann.
Letztes Jahr hatte ich in Hannover lange Zeit auf Bestzeitkurs gelegen, aber mit starken Magenbeschwerden gekämpft und war am Ende eingebrochen. Es kam mir so vor, als hätte ich anschließend für Wochen und Monate meine Form gesucht und fühlte mich ziemlich geplättet. Möglich, dass die Enttäuschung und daraus resultierende Motivationsprobleme eine Rolle gespielt hatten. Oder es war der heiße Sommer. Oder was auch immer. Die Möglichkeit jedoch besteht, dass mich der Lauf entscheidende Kraft oder Selbstvertrauen kostet, sollte ich es nicht schaffen. Vor allem letzteres. Zweifelsfrei fest steht es aber nicht. Ein klares Vielleicht also.
Insofern taugt die Frage nicht, um meine Taktik davon abzuleiten. Eventuell besser so: Was ist mir eine Bestzeit im Halbmarathon wert? Ein Scheitern in Hamburg? Schwer zu sagen. Auch hier ein Vielleicht. Eine neue Bestzeit im Halbmarathon hätte immerhin den Trainingsaufwand schon gerechtfertigt. Nur gibt es eben keine Garantie dafür.
Also letzte Frage an mich selbst: Was kann ich dadurch gewinnen, wenn ich am Sonntag alles in die Waagschale werfe und einen Angriff auf die Bestzeit starte? Ein gelungener Lauf würde mich pushen und mir eine gehörige Portion Selbstvertrauen mitgeben. Sollte es reichen, gäbe es in Hamburg nur noch Bonuspunkte zu holen und ich könnte ein wenig gelassener an den Start gehen. Es bestünde nicht mehr die Gefahr, dass das aufwendige Training gänzlich umsonst gewesen ist.
Zudem weiß ich, dass ich jede langsamere Zeit drauf habe. Es wäre einfach keine Herausforderung und ich bin nun einmal Sportler. Sollte ich mich schonen und dennoch in Hamburg meine Ziele verpassen, ich würde mich maßlos ärgern, es in Hannover nicht wenigstens versucht und mich geschont zu haben. Vielleicht ist es nicht klug so schnell zu laufen, aber ich bin Sportler. Also habe ich keine Wahl: Am Sonntag, 10:45 Uhr steht Vollgas auf dem Programm. Immerhin weiß ich dann, wo ich stehe.